27.10.2025: Generation Angst - Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen

1. Begrüßung und Vorstellung der neuen Bibliotheksleiterin (Karl Schneiderhan)

Herzlich willkommen zum heutigen Gesprächskreis. Bevor wir uns inhaltlich dem angekündigten Thema widmen, möchte ich in unserem Kreis die neue Leiterin der Stadtbibliothek, Frau Canan Klagges, herzlich begrüßen und willkommen heißen.

Der politische Gesprächskreis war mit das erste Veranstaltungsformat im Angebot der 2017 eröffneten Stadtbibliothek. Wenige Wochen nach der Eröffnung, ein Tag nach der Bundestagswahl 2017, fand der Gesprächskreis erstmalig statt. Die Idee dafür entstand in einem Gespräch mit Frau Bolle, als sie von Ihrer Idee berichtete, neben Bücher- und Medienausleihe u. a. Gesprächsforen anzubieten. Daraus erwuchs spontan die Idee, in der Bibliothek einen politischen Gesprächskreis anzubieten, inzwischen ein in der Region anerkanntes Format politischer Bildung. Dass ein solches Format über all die Jahre wachsen konnte, dafür steht die stets verlässliche Unterstützung durch das Team der Stadtbibliothek. Ohne diese wäre ein solches Angebot für uns Ehrenamtliche nicht leistbar.

So freuen wir uns auf ein gutes Miteinander mit Ihnen, sehr geehrte Frau Klagges, und wünschen Ihnen für Ihre neue Leitungsaufgabe gutes Gelingen, Sinn, Freude und Erfüllung sowie stets jene Prise Humor, die manches Alltägliche leichter ertragen lässt. 

Zumindest ist bereits der bekannte Reformator Martin Luther für die Arbeit einer Bibliothek ein wichtiger Fürsprecher. In seiner 1524 veröffentlichten Schrift an die Ratsherren aller Städte deutschen Landes forderte er: „Man solle dafür Fleiß und Kosten nicht sparen und neben Schulen gute Bücherhäuser, sonderlich in Städten, die solches wohl vermögen, verschaffen.“ Die Schrift trägt im Übrigen den Titel „Dummheit regiert, wenn Bildung krepiert!“ In diesem Sinne Ihnen und Ihrem Team nochmals gutes Gelingen und auf ein gutes Miteinander.

 

2. Einführung ins Thema (Hans-Ullrich Brändle) 

Einem Schaubild, das der Stellvertretende Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie (KiJuP) in Tübingen, Dr. Gottfied Maria Barth, in Rottenburg am 16.1025 gezeigt hat, entnehmen wir, dass die Zahl der Notaufnahmen in seiner Klinik von 44 (1995) auf 400 (2021), seit 2019 besonders stark angestiegen ist, was insgesamt in den 26 Jahren einem prozentualen Anstieg um den Faktor 800 entspricht, seit 2010-2021 um 300%. 2010 bis 2025 schätzt Dr. Bath einen Anstieg der Notaufnahmen um 400%. Mit dem Jahr 2010 steigt die Kurve steil und mit 2019 sehr steil. Erweiterungsbauten waren seit der Jahrtausendwende in Tübingen rund um das alte Haupthaus der KiJuP erforderlich und sind aktuell im Entstehen. Solche Verläufe, wie in Tübingen, korrespondieren mit internationalen Hospitalisierungstendenzen in Kinder- und Jugendpsychiatrien. Inwieweit diese mit rasanter Verbreitung der Smartphones in den Jahren 2010/11 u.a. durch veränderte Mediengewohnheiten und Kommunikationslenkung kausal in Verbindung gebracht werden können, wird Wolfgang Hesse im folgenden Impuls-Vortrag anhand des 2024 erschienen Buches von Jonathan Haidt darlegen.

 Anmerkungen (aus Zeitgründen zunächst am27.10.25 nur verkürzt von HUB referiert):

  1. Um die immer zu hörende, berechtigte Kritik an J. Haidt vorweg zu nehmen, wird eingangs auf die noch unzureichende Forschungslage hingewiesen, wie im Schlusswort nach der Diskussion von HUB anhand eines Textes der Leopoldina nochmals zu präzisieren war (s.u.).
  2. Um Korrelationen wissenschaftlich nämlich kausal zu kontextualisieren, soviel wurde vorab klargestellt, wäre doch der Medienkonsum der Kinder und Jugendlichen durch Längsschnittanalysen mit genügend Zeitpunkten und Entwicklungen zufallsgesichert zu überprüfen und in Metaanalysen in seiner Auswirkung von anderen Faktoren der gegenwärtigen Polykrise, Schulkonzepten und veränderten sozialen und pädagogischen Faktoren abzugrenzen. 3. Hierfür sind darüber hinaus komplexe, koordinierte Studiendesigns erforderlich und weltweit nicht vorhanden, die den Einfluss von gleichzeitigen Vorteilen der sozialen Kontaktaufnahme mitabprüfen, Risiken, Risikogruppen; Ressourcen kontrollieren (u.a. Schicht, Vorerkrankungen, Schul-Elterneinfluss; usw.) und auch im Sinne von Kontrollvariablen, Moderatoren und Vermittlungen berücksichtigen. Fragen stellen sich also: Warum sind die Präventionsmaßnahmen so stark auf das Symptom (Nutzung) konzentriert und wenig auf erschwerende, begleitende Ereignisse? Verstecken sich im Begriff des Stresses, der als begleitendes Merkmal hervorgehoben wird, nicht auch viele Merkmale des Lebensfeldes (Eltern, Schulen, Zukunft, Armut, Klimas, Krieg, usw., Beziehungsprobleme der KJ, Bedürfnisdefizite, usw.)? Schließlich wäre im weitesten Sinne auch abzuklären: gibt es Gefahren der Regulierung des Nutzens (weltanschaulicher Art, auch als Maßnahme, die pubertär gerade das Gegenteil produzieren, wie Kontaktverbesserung der Randgruppen untereinander)?

 

4. Impuls (Wolfgang Hesse)

Zur Präsentation (kann als pdf heruntergeladen werden)  

5. Diskussion (Moderation Hans-Ullrich Brändle; Protokoll Winfried Thaa)

Zunächst fragt ein Teilnehmer nach, was der mehrfach benutzte Begriff der Generation Z eigentlich bedeutet. Es konnte schnell geklärt werden, dass sich die Bezeichnung auf die zwischen 1995 und 2012 Geborenen bezieht. Ob die Bezeichnung Z eine Bedeutung hat, blieb unklar. Nach Auskunft eines weiteren Teilnehmers sei die Bezeichnung nur gewählt worden, weil die genannten Jahrgänge auf die älteren Generationen X und Y folgen. 

Eine weitere Nachfrage richtete sich auf den unregelmäßigen Verlauf der in der Präsentation gezeigten Kurven und wollte wissen, womit die „Dellen“ zu erklären wären. Die Antwort des Referenten verwies darauf, dass die von den verschiedenen Statistiken erfassten Phänomene, wie die Zunahme psychischer Krankheiten oder der Rückgang von Sozialkontakten, nie monokausal verursacht seien. Deshalb könne auch nicht erwartet werden, dass die Verbreitung von Handys und sozialen Medien allein zu einem linearen Anstieg führen würden.

Zum Thema Angst erwähnt eine Teilnehmerin, die heute von der Presse berichtete Initiative des Bundesinnenministers Dobrindt zur Vorbereitung von Schülern auf Kriegsgefahren. Statt auf diese Weise noch zusätzlich Ängste zu schüren, sollten Kinder und Jugendliche besser durch die Vermittlung kreativer Fähigkeiten gestärkt werden.

Einer anderen Teilnehmerin fehlten im Vortrag Hinweise auf die Hirnforschung und speziell auf die Erkenntnisse Manfred Spitzers. Eine dieser Erkenntnisse lautet, dass das Gehirn ständig in Übung bleiben sollte. Wenn man dagegen sein Gedächtnis nicht mehr nutzt, sondern sofort alles im Smartphone nachschaut, könne das nicht ohne Konsequenzen bleiben. Wolfgang Hesse antwortet darauf direkt, dass Jonathan Haidt in seinem Buch durchaus die neueren Erkenntnisse der Hirnforschung berücksichtige, er aber in seinem Vortrag aus Zeitgründen kaum darauf eingegangen sei.

Zur Forderung nach mehr unbeaufsichtigtem Spielen zwischen Kindern und Jugendlichen fragte eine ehemalige Erzieherin nach, wo denn so etwas heute überhaupt noch stattfinden könne. Aufsichtspflichten und der Druck auf Erzieherinnen und Lehrerinnen hätten während der letzten Jahre enorm zugenommen.  Wohnquartiere seien heute auch unzureichend dafür gestaltet.

Das bestätigt eine langjährig auf Abenteuerspielplätzen und in Kindergärten tätige Erzieherin. Die in Schulen und Kitas Arbeitenden hätten kaum mehr pädagogischen Spielraum, von allen Seiten eingeschränkt und unter Druck stünden sie gewissermaßen da „mit den Händen an der Hosennaht“ in Erwartung rechtlich zu vermeidender Regressforderungen von Eltern und Organisationsleitung.

Für mehr unbeaufsichtigtes Spielen unter Kindern bräuchte es doch städtebauliche Lösungen, die das Ermöglichen erst würden.

„Wer ist denn die Generation Angst? Sind das nicht eher die Helikoptereltern“? Die Jugendlichen antworteten doch nur auf das, womit sie konfrontiert sind.

Dass Mädchen das Smartphone häufiger nutzen und ihm stärker ausgeliefert sind als Jungen erkläre sich doch auch daraus, dass sie ohnehin stärker unter dem Druck ihrer Umgebung, auch dem ihrer Eltern stehen und sich immer wieder Bemerkungen über ihr Aussehen anhören müssen.

Eine anwesende Psychotherapeutin bestätigt, dass Smartphones nicht die einzige Ursache psychischer Probleme sind. Als weitere Beispiele nennt sie Essstörungen, die durch Corona verstärkt worden seien, aber aktuell auch den Krieg im Gazastreifen und die grauenhaften Ereignisse, mit denen Kinder und Jugendliche dadurch konfrontiert sind. Auch der Leistungsdruck in der Schule sei ein weiterer Faktor. Wichtig seien dagegen leistungsfreie Bereiche, etwa Abenteuerspielplätze und Jugendfreizeiten, aber die würden immer mehr abgeschafft. 

Ein teilnehmender Jugendlicher sieht ebenfalls einen Grund für das Abtauchen in die digitale Welt im Leistungsdruck der Schule. Im Netz werde man aber vor allem mit negativen Nachrichten konfrontiert, denen die junge Generation deshalb viel zu stark ausgesetzt sei. Wichtig wäre, junge Menschen auch positive Nachrichten zu vermitteln.

Laut einem weiteren Teilnehmer fehlt es heute insbesondere an Spiritualität, worauf auch im Buch von Haidt hingewiesen wird. Nicht nur im religiösen Sinn, sondern auch in anderen Formen „höherer geistiger Welten“. Für Dinge wie Poesie gebe es praktisch keinen Raum mehr, es finde „eine Amputation des Menschseins“ statt. Dies sei ein Exzess des Kapitalismus. Eine Handvoll Menschen mache sich durch die sozialen Medien zu Milliardären, schicke die eigenen Kinder dann aber in den Walldorf Kindergarten.

Aus der Arbeit mit Jugendlichen berichtet ein Teilnehmer, kaum mehr jemand unter den jungen Leuten lese Zeitung oder informiere sich über das öffentliche Fernsehen. Man sei an den extrem kurzen Tik Tok-Rhythmus gewöhnt. In Baden-Württemberg dürfen bei der nächsten Wahl aber bereits 16-Jährige wählen, und unter diesen sei die Bereitschaft sehr groß, eventuell auch AfD zu wählen. Das habe er anlässlich einer Unterrichtseinheit bei seinen Schülern erfragen können. Hans-Ullrich Brändle ergänzt, dass Gaming zu social-media mutiert und von Rechtsradikalen zunehmend funktionalisiert wird.

Wolfgang Hesse kommt nochmal auf die Bezeichnung „Generation Angst“ zu sprechen und führt aus, dass in den USA, auf die sich das Buch ja in erster Linie beziehe, der Druck auf Jugendliche zu schulischem Erfolg noch größer sei als hier. Dort sei die untere Mittelschicht der Blue Collar Arbeiter am Wegbrechen und wirtschaftlicher Erfolg hänge immer stärker von einem Hochschulabschluss ab.

Ein Teilnehmer weist darauf hin, dass heute in der Zeitung zu lesen sei, Kulturstaatsminister Weimer fordere eine Digitalabgabe der großen Internetkonzerne, eine Art Digitalsoli. Er stößt damit bei den Betroffenen allerdings auf entschiedenen Widerstand.

Eine Teilnehmerin betont, dass die Mädchen trotz ihrer größeren Probleme mit den sozialen Medien im Bildungssystem immer noch erfolgreicher seien als Jungen. Der Skandal liege darin, dass trotzdem weiter die Männer die Karrieren machen.

Dem widerspricht ein Teilnehmer mit dem Hinweis auf die anwesende neue Bibliotheksleiterin.

Der zuvor geäußerten Kapitalismuskritik wird insofern widersprochen, als es doch immer noch die Eltern seien, die für ihre Kinder verantwortlich sind. Zudem träfen Facebook und Tik Tok auf Bedürfnisse. Nicht umsonst hätten sie Milliarden Nutzer. Es komme darauf an, wie die Medien genutzt werden, und das läge in letzter Instanz in der Verantwortung der Eltern.

Dem wird entgegnet, dass die Eltern doch oft selbst überfordert seien und es auch unter ihnen Abhängigkeiten von sozialen Medien gebe.

Der anwesende Jugendliche greift die Thematisierung der Elternverantwortung auf und lobt die Hilfe seiner Eltern beim Umgang mit dem Handy, das er seit dem 13. Lebensjahr nutze. Da zu sein für die Kinder, sei wichtiger als abstrakte Regeln zu setzen.

 

 6. Schlussbemerkung

Zum Schluss verweist Hans-Ullrich Brändle auf eine Erklärung der Leopoldina, der nationalen Akademie für Wissenschaften vom August dieses Jahres ( https://www.leopoldina.org/publikationen/detailansicht/publication/soziale-medien-und-die-psychische-gesundheit-von-kindern-und-jugendlichen-2025/ ). In ihr fordern die Wissenschaftler vorbeugende Maßnahmen, um Kinder und Jugendliche vor negativen Folgen sozialer Medien zu schützen, auch wenn das Risiko wissenschaftlich noch nicht vollständig geklärt sei. Die Hinweise auf schädliche Auswirkungen seien aber so deutlich, dass Vorsorgemaßnahmen gerechtfertigt seien. Konkret nennen sie altersabhängige Zugangs- und Funktionsbeschränkungen.

Die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen hat für den Zugang Minderjähiger zu Social-media-Plattformen und bestimmten Apps eine Grenze von 15 Jahren ins Spiel gebracht. Bei einem informellen Ratstreffen wurde, so ist am 13.10.2025 in der Presse berichtet, eine Erklärung zur "Gestaltung einer sicheren Online-Welt für Minderjährige" unterzeichnet. Fast alle EU-Länder unterzeichneten das Papier, ebenso wie Norwegen und Island. Es gab kaum Abweichler: Mehrheit der EU-Staaten ist für Social-Media-Verbot für Kinder.“

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