Wir beschäftigen uns heute mit dem Buch „Der Preis der Welt - eine Globalgeschichte des Kapitalismus“, welches 2023 bei C.H. Beck erschienen ist. Das besondere unseres heutigen Treffens ist, nicht jemand aus der Vorbereitungsgruppe, sondern der Autor selbst, Prof. Dr. Friedrich Lenger, wird sein Werk zusammenfassen. Ich begrüße ihn herzlich und danke ihm vorab, uns 90 Minuten zur Verfügung zu stehen.
Vorneweg einige Informationen zu Person und wissenschaftlichem Werk von F. Lenger. Er ist emeritierter Professor für mittlere und neuere Geschichte der Universität Gießen und hat Geschichte, Sozialwissenschaften und Politikwissenschaften an den Universitäten in Düsseldorf, Bielefeld und Ann Arbor (Michigan) studiert. Von 1985-1994 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter und Hochschulassistent in Tübingen, von 1994-1999 Professor in Erlangen und daran anschließend von 1999-2023 in Gießen.
Unter den zahlreichen Auszeichnungen und Mitgliedschaften möchte ich zwei hervorheben: Den renommierten Leibniz Preis der DFG 2015 und den Vorsitz des Wissenschaftlichen Beirats des Deutschen Historischen Instituts in Washington.
Bei Durchsicht seiner Publikationsliste fallen vier Schwerpunkte auf: Sozialgeschichte des 19. Jh., u.a. die Buchveröffentlichung „Sozialgeschichte der deutschen Handwerker seit 1800“ von 1988; die Geschichte der Nationalökonomie und Soziologie mit einer Biographie zu Werner Sombart, 1994 erschienen, die mittlerweile drei Auflagen erfahren hat; Geschichte der Städte im 19. Jh. mit einer Veröffentlichung „Stadt-Geschichten. Deutschland, Europa und Nordamerika seit 1800“ (1994) und zum heutigen Thema „Der Preis der Welt“.
Hans-Ullrich Brändle, der uns mit seiner Begeisterung für das Buch im Vorbereitungsteam davon überzeugt hat, wird nun inhaltlich darauf eingehen und das Gespräch moderieren.
„Als ich vor drei Monaten das Buch vom Buchhändler empfohlen bekam, wusste ich: „Der Preis der Welt“ hat mit mir selbst zu tun, denn alle werden die Zeche zahlen, wenn die Welt verscherbelt wird! Noch im Laden hatte ich zwei Fragen. Die erste wurde wenige Tage später mit „ja“ beantwortet und ich freue mich, dass Sie Herr Professor Lenger meiner Einladung gefolgt sind. Die zweite Frage war, ob das Thema genügend Interessenten finden würde. Ich bin glücklich, dass so viele gekommen sind. Ich will einleitend kein Co-Referat halten, aber sechs „einfache“ Fragen stellen, die ich Herrn Lenger vorab zukommen ließ.
Kurz gefragt: Wie geht Geschichtsschreibung in Sachen Kapitalismus?
Kurz gefragt: Was ist Kapitalismus und was sind seine motivationalen (individuellen und gesellschaftlichen, globalen und nationalstaatlichen) Hintergründe?
Kurz gefragt: Wie lässt sich das weltweite Räderwerk des Kapitalismus begreifen?
Kurz gefragt: Wie sehen Sie die Entwicklung des Kapitalismus im Verhältnis zur Gewalt?
Kurz gefragt: Sehen Sie Chancen, dass nachfolgende Generationen nicht für die Lebensweisen der Vorgänger büßen müssen und können Sie sich eine Entwicklung zum Besseren vorstellen, z. B. durch die Entstehung der BRICS-plus-Staaten-Vereinbarungen?
„Guten Morgen und vielen Dank für die freundliche Vorstellung, Ihnen allen für Ihr Interesse an meinem letzten Buch und insbesondere Ihnen, lieber Herr Brändle, für Ihre Fragen. Ich will gerne die mir zur Verfügung stehenden dreißig Minuten auf die knappe Beantwortung dieser Fragen verwenden, da wir so vermutlich schneller in eine Diskussion kommen, als wenn ich versuche, in so knapper Zeit mein Buch zusammenzufassen. Denn dieses Buch, so werden, wie ich fürchte, diejenigen von Ihnen bestätigen, die darin gelesen haben, ist recht dicht. Und es ist ein hoffnungsloses Unterfangen, es noch einmal in der Weise zu verdichten, dass ich pro Minute meiner Sprechzeit 19 Seiten seines Inhalts zusammenfassen müsste.
Hangeln wir uns also an den von Herrn Brändle formulierten Fragen entlang und beginnen mit der ersten. Was hat es mit dem Titel auf sich und wie geht Geschichtsschreibung in Sachen Kapitalismus? „Der Preis der Welt“ – das ist offensichtlich mehrdeutig. Zum einen steckt da natürlich drin, dass in einer kapitalistischen Welt alles zur Ware wird. Wer von uns hätte sich in den 1950er, 1960er oder 1970er Jahren, als er oder sie morgens den Turnbeutel mit in die Schule genommen hat oder nachmittags in den Sportverein gegangen ist, vorstellen können, dass Sport einmal etwas sein würde, dass man nach Abschluss eines entsprechenden Vertrags bei McFit oder sonst wo ausüben darf. Aber in der damit angesprochenen und ohne Zweifel grundlegend wichtigen Kommodifizierung, von der schon Karl Marx gesprochen hat, erschöpft sich nicht, was der Titel meines Buches transportieren soll. „Der Preis der Welt“ – das meint zum anderen und vor allem den Preis, den nachfolgende Generationen dafür werden zahlen müssen, „dass unsere kapitalistisch verfasste Gesellschaft seit Jahrhunderten so tut, als ob Naturressourcen keinen Preis hätten.“ (11) Wirtschaftswissenschaftler sprechen etwas präziser von Externalisierung, von Kosten also, die man der Gemeinschaft oder zukünftigen Generationen aufbürden kann, aber eben deshalb in der eigenen Kostenrechnung nicht berücksichtigen muss. Kann man den „Preis der Welt“ in diesem Sinne beziffern? Dazu gibt es durchaus Modellrechnungen, denen die Unsicherheit aller Zukunftsprojektionen anhaftet, Kalkulationen der Kosten also, die entstehen, um die Folgen des bereits eingetretenen und des nicht mehr zu bremsenden Klimawandels abzufedern. Auf globaler Ebene reden wir hier von Billionenbeträgen, wobei die Schätzungen in Abhängigkeit von den in die Modelle eingeflossenen Annahmen weit variieren.
Auf einer sehr viel konkreteren Ebene können wir natürlich recht präzise in Erfahrung bringen, wie viel Geld wir in die Wiederaufforstung des Regenwaldes investieren müssen, um z.B. die schädlichen Folgen des CO2-Ausstoßes eines Fernflugs auszugleichen. Ich habe also, um zu der Frage nach der Quantifizierung überzuleiten, gar nichts gegen Zahlen. Man muss nur kritisch und vorsichtig mit ihnen umgehen. Das Bruttoinlandsprodukt z.B. ist nicht das Maß aller Dinge. Ökonomen wie Amartya Sen haben deshalb alternative Maße für die Wohlfahrt der Menschen in verschiedenen Weltregionen entwickelt, die z.B. die durchschnittliche Lebenserwartung oder die Zugänglichkeit von Bildung einbeziehen. Und dann muss man sehen, dass Kenngrößen wie das BIP erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts geschaffen worden sind und statistisches Zahlenmaterial, um Schätzungen desselben für frühere Zeiten vorzunehmen, meist erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Verfügung steht. Wenn sich also Wirtschaftshistoriker seit 25 Jahren heftig darum streiten, in welchem Verhältnis um 1750 die Reallöhne eines männlichen Webers in China und England zueinandergestanden haben, dann stehen sie zunächst einmal vor immensen Quellenproblemen. Sie müssen darüber hinaus aber auch berücksichtigen, dass die abhängige Beschäftigung von Webern in England verbreitet war, in China aber nicht. Sie laufen also Gefahr, ganz unterschiedliche Teilgruppen der Gesellschaft miteinander zu vergleichen, konkret die chinesische Unterschicht mit der unteren Mittelschicht in England. Und dann sollten sie bei der Umrechnung von Nominal- zu Reallöhnen auch nicht den Fehler machen, die Ernährung des einen Landes zum Maßstab für das andere zu nehmen. Wenn der englische Weber für seinen Lohn mehr Brot und Bier kaufen konnte als sein chinesischer Kollege, dann ist das wenig aussagekräftig, falls letzterer vor allem Reis und Tee verzehrt haben sollte, Artikel, die wiederum in England teurer waren als in China. Langer Rede kurzer Sinn: Zahlen sind unverzichtbar, aber mit Vorsicht zu genießen.
Und das banal klingende letzte Beispiel hat eine allgemeinere Implikation. Das Vergleichen, auf das die Globalgeschichte nicht verzichten kann, darf kein eurozentrisches Vergleichen sein. Soll heißen: Es reicht nicht zu fragen, warum die chinesische Entwicklung nach 1750 nicht der englischen gefolgt sei, man muss auch fragen, warum die englische nicht der chinesischen geglichen habe. Wer aus der ersten Perspektive schaut, landet schnell bei vermeintlichen englischen Besonderheiten wie einer einzigartigen Kultur der Innovation o.ä.; wer aus dem entgegengesetzten Blickwinkel fragt, dem wird z.B. auffallen, dass England anders als China für die Ernährung seiner Bevölkerung auf Kolonien zurückgreifen und schon deshalb mit einem höheren Prozentsatz gewerblich Beschäftigter leben konnte. Von Europa aus auf die Welt zu blicken, sind wir nicht nur alltagsweltlich gewohnt, sondern auch wissenschaftlich sozialisiert. Ich nenne hier nur Max Webers Theoriegebäude eines okzidentalen Rationalismus als prominentestes Beispiel.
Und damit sind wir auch fast schon bei dem zweiten Fragenbündel, was den Kapitalismus ausmacht und worin seine motivationalen Hintergründe bestehen. Ich habe mit einer sehr weiten, auf Max Weber zurückgehenden Kapitalismusdefinition begonnen. Weber definiert einen kapitalistischen Wirtschaftsakt als einen solchen, „der auf Erwartung von Gewinn durch Ausnützung von Tausch-Chancen ruht: auf (formell) friedlichen Erwerbschancen also.“ Nun klingt „Erwartung von Gewinn“ zunächst einmal denkbar unspektakulär und doch steckt mit der Projektion auf die Zukunft ein wichtiges Element in dieser Definition. Schumpeter hat das mit der Betonung des Kredits weiterentwickelt, sich aber vermutlich noch nicht vorstellen können, dass es heute gängige Praxis ist, sich gegen eine Gebühr Aktien zu leihen und diese in der Erwartung zu verkaufen, dass ihr Kurs beim vertraglich fixierten Rückgabedatum niedriger liegt. Die imaginierte Zukunft, als die Jens Beckert diese Gewinnerwartung gefasst hat, ist also seit Webers Tagen noch sehr viel wichtiger geworden. Dagegen muss Webers Rede von den formell friedlichen Erwerbschancen noch erläutert werden. Denn Gewalt kann auch beim Tausch, den es schon sehr früh und fast überall gegeben hat, eine potenziell wichtige Rolle spielen. Sie begründet den Einschnitt, den für mich die europäische Expansion in einer grundsätzlich weiter zurückreichenden Kapitalismusgeschichte bildet. Und extrem gewaltsam ist sowohl die spanische und portugiesische Eroberung Lateinamerikas als auch die portugiesische und niederländische Erzwingung von Ankaufmonopolen für Gewürze und Baumwollstoffe, später auch Tee in Ostindien. Wirtschaftlicher Erwerb und die Ausübung politisch-militärischer Macht gehen hier eine Verbindung ein, die in späteren Jahrhunderten ihren Charakter verändert, ohne sich gänzlich aufzulösen. Ostindien und Lateinamerika waren schon dadurch eng verknüpft, dass das Edelmetall, insbesondere Silber aus Bolivien und Mexiko gebraucht wurde, um die Importe aus Süd- und Ostasien zu bezahlen. Diese weltwirtschaftliche Struktur veränderte sich aber noch einmal dadurch grundlegend, dass seit dem 17. Jahrhundert verstärkt Sklaven von der afrikanischen Westküste nach Brasilien und in die Karibik verschleppt wurden, wo sie vor allem auf den rasch expandierenden Zuckerplantagen arbeiten mussten. Denn mit ihren Produkten wurden die vor allem britischen und französischen Kaufleute bezahlt, die zuvor ihre an die afrikanische Westküste segelnden Schiffe ausgerüstet und mit indischen Baumwollstoffen sowie europäischen Gewerbeprodukten – allen voran Waffen – zur Bezahlung der afrikanischen Sklavenhändler beladen hatten.
Die sog. europäische Expansion an den Anfang zu stellen, ist begründungsbedürftig, ist doch die Wahl der Industriellen Revolution als Zäsur sehr viel gängiger. Drei Gründe sind hier entscheidend: Erstens hält die von Maschinen mitgeprägte fabrikähnliche Arbeit schon auf den Zuckerplantagen des 17. und 18. Jahrhunderts Einzug. Denn die Pressen, mit denen dem Zuckerrohr sein Saft abgerungen wird, und die zur Weiterverarbeitung benötigten Siedekessel sind kapitalintensive Maschinen, deren Auslastung den Takt auch für die Arbeiten angibt, die wie das Schlagen des Zuckerrohrs weiterhin von Hand erfolgen. Zweitens ist auch die herkömmliche Engführung der Industriellen Revolution auf die britische Textilindustrie nur im Kontext der beschriebenen globalen Wirtschaftsordnung zu verstehen. Denn den Anreiz zur Entwicklung der Maschinen von Hargreaves, Key oder Crompton bildet die bis dahin konkurrenzlose indische Baumwollproduktion. Deren bunt gefärbte Produkte werden im England des 18. Jahrhunderts zur als existenzbedrohend wahrgenommenen Konkurrenz für den seit dem Mittelalter wichtigsten britischen Gewerbezweig, die Wolltuchproduktion. Deren Lobbyisten erreichen zunächst Importbeschränkungen für gefärbte Baumwollstoffe und schaffen somit ungewollt einen Anreiz für den Aufbau einer britischen Kattunfärberei, welche nun die nach wie vor legal importierten weißen Baumwollstoffe bedruckt. Weiterer Lobbyarbeit fällt auch der Import weißer Baumwollstoffe und dann der von Baumwollgarn zum Opfer; mit der Konsequenz der Entstehung einer inländischen Maschinengarnproduktion, die aufgrund der eingesetzten Maschinen mittelfristig auf den Auslandsmärkten auch der etablierten indischen Konkurrenz standhält. Dass so aus einer Nischenexistenz heraus die im frühen 19. Jahrhundert wichtigste englische Industriebranche entstehen kann, hängt aber drittens von zwei Charakteristika der atlantischen Dreieckswirtschaft ab, welche die Wirtschaftshistoriker Ronald Findlay und Kevin H. O`Rourke als außergewöhnliche „Elastizitäten“ beschreiben. Denn zum einen hängt die ungebrochene Expansion der britischen Baumwollindustrie von der Ausweitung der Flächen ab, auf denen Baumwolle angebaut wird, m.a.W. vom Vordringen der Baumwollplantagen des amerikanischen Südens von der Ostküste bis an den Mississippi. Und zum andern ist eben dieses Vordringen unvorstellbar ohne den Einsatz von immer mehr versklavten Menschen auf den Plantagen.
Indirekt gibt diese knappe Schilderung auch bereits eine Antwort auf die dritte Frage nach etwaigen wiederkehrenden Mustern kapitalistischen Erfolgs oder Misserfolgs. Denn soweit es solche Muster überhaupt gibt, haben sie nicht den Charakter von Vorbild und Nachahmer. Erwägen Sie etwa, was der Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften, Angus Deaton, den Entwicklungsländern empfiehlt: „Zweifellos sollte geschehen, was in der mittlerweile reichen Welt geschah, wo sich die Länder auf ihre eigene Art, in ihrem eigenen Rhythmus und entsprechend ihrer eigenen politischen und wirtschaftlichen Strukturen entwickelt haben.“ Das ist angesichts der Folgen kolonialer Abhängigkeit und anderer Formen asymmetrischer Verflechtung blanker Zynismus. Denn, wie soeben gezeigt, ist der Aufstieg der englischen Baumwollindustrie untrennbar mit dem zusätzlich von der Zollpolitik der britischen Kolonialmacht beförderten Niedergang der indischen Baumwollindustrie, der Plantagenwirtschaft der amerikanischen Südstaaten und der Verschleppung afrikanischer Menschen aus deren Heimat verbunden. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus darf derartige Verknüpfungen keine Sekunde außer Acht lassen. Und jenseits dessen gibt es weitere Argumente, die zum zögerlichen Gebrauch des Begriffs „Muster“ mahnen. Denn wenn man mit Blick auf England von einem „Pionier“ des Industriekapitalismus spricht, dann muss einem klar sein, dass die Entwicklungsbedingungen für alle etwaigen „Nachfolger“ schon durch die Existenz eben dieses Pioniers ganz andere waren. Denn anders als im englischen Fall existiert bereits eine aufgrund des Entwicklungsvorsprungs übermächtige Konkurrenz.
In globaler Perspektive kann man dann gleichwohl vier Grundmuster des Umgehens mit dieser Situation erkennen. Das erste könnte man ein belgisch-deutsch-russisches Industrialisierungsmuster nennen. Geprägt ist es von immensen staatlichen Investitionen in die Infrastruktur, konkret in den Eisenbahnbau. Unter der Voraussetzung beträchtlicher Kohlevorkommen können diese Investitionen einen entscheidenden Impuls für den Aufbau einer Montanindustrie bilden. Entscheidend sind hierfür Vorwärts- wie Rückwärtskopplungseffekte sowie eine erfolgreiche Importsubstitution – gruselige Wortschöpfungen von sprachlich unsensiblen Ökonomen. Schematisch rückübersetzt bedeuten sie, dass vom Eisenbahnbau eine immense Nachfrage nach Schienen und Lokomotiven ausgelöst wird, zu deren Herstellung wiederum beträchtliche Mengen an Kohle benötigt werden. Reicht das technische Entwicklungsniveau wie insbesondere im belgischen und deutschen Fall aus, um der zunächst auch hier überlegenen britischen Konkurrenz standzuhalten, kann der Aufbau einer eigenen Schwerindustrie und eines eigenen Maschinenbaus gelingen. Importe werden dann substituiert, d.h. anders als bei der ersten deutschen Eisenbahnfahrt zwischen Nürnberg und Fürth steuert dann nicht länger ein englischer Lokomotivführer eine englische Lok und die staatlichen Investitionen kommen der Binnenwirtschaft zugute, die – das sind die Vorwärtskopplungseffekte – zusätzlich davon profitiert, dass aufgrund der verbesserten Verkehrsverbindungen binnenländische Produkte gegenüber Importen tendenziell günstiger werden.
Das Gegenstück zu diesem kapitalintensiven Weg ist dann zweitens die arbeitsintensive Industrialisierung, wie sie zunächst in Japan und anderen asiatischen Staaten versucht worden ist. Das Vorhandensein zahlreicher billiger Arbeitskräfte wird hier genutzt, um Konsumgüter besonders preiswert herzustellen. Die Textilproduktion in Japan während der Zwischenkriegszeit oder heute in Bangladesch können ebenso als Musterbeispiele dienen wie die Turnschuhproduktion in Taiwan während der 1970er Jahre oder später in Vietnam oder Thailand. Angestrebt wird regelmäßig, über diese bloß arbeitsintensive Industrialisierung hinauszukommen und sie - in der Regel unter Einsatz immenser staatlicher Mittel - um eine kapitalintensive Industrie wie z.B. die südkoreanische Stahl- und Werftenindustrie zu ergänzen und/oder mit Hilfe einer forcierten wissenschaftlich-technischen Entwicklung Wertschöpfung jenseits billiger Arbeit im Land zu halten. Mit unterschiedlichen Akzentsetzungen ist das Taiwan, Japan und Südkorea in verschiedenen Bereichen der Elektronik gelungen. Anders als in den zuletzt genannten Ländern ist Arbeit im dritten Fall der knappe Produktionsfaktor. Siedlerkolonien wie die USA, Kanada, Australien, Neuseeland oder auch Argentinien waren im späten 19. Jahrhundert die Länder mit den weltweit höchsten Löhnen, was Zuwanderung anlockte, ohne diesem Mangel wirklich abhelfen zu können. Für die weitere Entwicklung war entscheidend, ob der Zugang zu dem im Überfluss vorhandenen Land für die Siedler - und auf Kosten der indigenen Bevölkerung - relativ offen und egalitär oder wie in Lateinamerika sehr hierarchisch war. Aber auch in relativ egalitären Ländern wie Kanada, Australien und Neuseeland ist die Rohstoffextraktion bis in die Gegenwart wichtig geblieben: Holz und später vermehrt Öl im kanadischen, erst Wolle, heute Kohle und wertvolle Metalle im australischen oder Lammfleisch, Milchprodukte und Obst im neuseeländischen Fall. Ansätze zur Industrialisierung hat es in den genannten Ländern gegeben, die ihren im 19. Jahrhundert begründeten Wohlstand haben verteidigen können, ohne zu führenden Industrienationen aufgestiegen zu sein.
Nochmals anders stellt sich die Situation viertens in den Weltregionen dar, die bis heute primär vom Rohstoffexport leben, ohne von einem Wohlstandssockel à la Australien, Kanada oder Neuseeland zu profitieren. Wenn ich dabei Lateinamerika und den afrikanischen Kontinent zusammennehme, soll das nicht den wichtigen Unterschied verdecken, dass anders als die afrikanischen fast alle lateinamerikanischen Staaten einen beträchtlichen Industriesektor aufweisen, meist das Produkt einer staatlichen Entwicklungsstrategie. Gleichwohl ist auch dort die Abhängigkeit vom Rohstoffexport groß. Schaut man ganz knapp auf das subsaharische Afrika, dann sind die wohlhabendsten Länder dort die mit zum Teil beträchtlichen Ölvorkommen. Nigeria ist wohl das prominenteste Beispiel und die allseits bekannten Verheerungen im ehemals fisch- und artenreichen Niger-Delta im Interesse des Shell-Konzerns deuten bereits an, dass die breite Bevölkerung Nigerias kaum von den Öleinnahmen profitiert. Die Forschung spricht von gatekeeper states, Staaten also, deren Eliten sich wenig um die inneren Belange des Staates kümmern und sich stattdessen auf die Kontrolle des interface zwischen innen und außen konzentrieren, die – um das konkreter zu fassen – also zusehen, dass sie ihren Anteil an den mit dem inländischen Öl außerhalb des Landes gemachten Gewinnen erhalten und mit diesem Anteil die nötige inländische politische Unterstützung finanzieren. Auch in anderen rohstoffreichen Ländern wie dem Kongo profitieren primär die kolonialen und heute postkolonialen Eliten. Mit seinen besonders profitablen Bodenschätzen – Kupfer im 19. Jahrhundert und den für die Batterien von Elektroautomobilen unverzichtbaren Kobalt- und Lithiumvorkommen – ähneln sich der Kongo und Chile, auch wenn die chilenischen Vorkommen nicht unter so vollständiger Kontrolle durch chinesische Unternehmen stehen wie die kongolesischen. Auch in anderen mittel- und südamerikanischen Ländern bleibt der Export von Rohstoffen bis in die Gegenwart zentral und wir müssen hier nicht den relativen Stellenwert von Bananen oder Kaffee für wichtige lateinamerikanische Länder durchgehen. Werfen wir stattdessen einen Blick auf Brasilien, das insofern vielleicht das interessanteste lateinamerikanische Land ist, als hier ein in Teilen hochentwickelter Industriesektor – denken Sie nur an den Flugzeugbauer Embraer – neben einer gleichermaßen hochprofitablen und umweltbelastenden Großlandwirtschaft steht. Brasilien ist unverändert der größte Kaffeeexporteur der Welt, doch bringen der Export von Orangensaftkonzentrat und vor allem von Soja einen bis zu fünfmal so hohem Ertrag. Hauptabnehmer ist China, zugleich einer der Staaten, die in den zurückliegenden Jahren immense Flächen, d.h. konkret etwa 200 Millionen Hektar oder ca. fünf Bundesrepubliken, in Ländern des globalen Südens aufgekauft haben.
Halten wir kurz inne und konstatieren zwei wichtige Punkte: Die Muster der neokolonialen Beherrschung vor allem durch China unterscheiden sich nur wenig vom Kolonialismus des 19. Jahrhunderts. Zu ihnen gehört die Verschiebung der mit der Rohstoffextraktion verbundenen Umweltbelastungen auf die Bewohner der kolonialen und postkolonialen Räume. Die Bedingungen der Kupfergewinnung im kongolesischen Katanga des 19. und 20. Jahrhunderts waren extrem gesundheits- und umweltbelastend, die heutige Kinderarbeit in den dortigen Kobaltminen ist es gleichermaßen. Und das in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre die Weltöffentlichkeit erschütternde Zusammenbrechen von Dämmen im brasilianischen Mariana und drei Jahre später dann in Brumadinho, das Erzschlämme freisetzte, die ganze Dörfer verschwinden ließen, Hunderte Todesopfer kosteten und große Teile von Minas Gerais vergifteten, lag in der Verantwortung von multinationalen Konzernen wie BHP Billiton.
Der Schwenk nach Brasilien legt es nahe, bei der Beantwortung der Fragen zu springen und die fünfte Frage nach der Einheit der BRICS-Staaten vorzuziehen. Diese Einheit ist m.E. fiktiv oder genauer: sie ist eine bloß negative. Einig ist man sich in der Frontstellung gegen eine US-Hegemonie und gegen die Vormacht der Exekutivorgane des sog. Washington Consensus, also gegen die Weltbank, den Internationalen Währungsfonds und die Welthandelsorganisation. Wenn man die BRICS-Staaten als Interessenvertreter eines globalen Südens ansehen will, sollte man eingestehen, dass sie dies weit weniger sind als z.B. die blockfreien Länder der frühen 1970er Jahre, die für eine Neue Internationale Wirtschaftsordnung kämpften. Denn für China ist der Begriff des globalen Südens wenig mehr als ein willkommenes Feigenblatt für die eigenen hegemonialen und neokolonialistischen Ambitionen. Brasilien ist wie angedeutet hochgradig abhängig von China, Russland ist das in anderer Weise ebenfalls. Und Indien ist weit mehr Konkurrent als Verbündeter des Nachbarn im Nordosten. Von daher steht auch nicht unbedingt zu erwarten, dass die BRICS-Staaten in den Diskussionen um ein Abbremsen des Klimawandels mit einer Stimme sprechen. Aufgrund ihres Bevölkerungsreichtums und im Falle Brasiliens der für die CO2-Speicherung so wichtigen Regenwälder werden ihre Einzelstimmen in dieser Debatte aber sehr großes Gewicht haben. Sollte es überhaupt möglich sein, die Entwicklungsambitionen dieser Länder mit den ökologisch unbedingt gebotenen Einschränkungen der Nutzung fossiler Energien in Einklang zu bringen, wird es dazu eines offenen und offensiv vorgetragenen Eingeständnisses der Industriestaaten der nördlichen Hemisphäre bedürfen, der ökologischen Überbeanspruchung unseres Planeten seit langem vorgearbeitet zu haben und das auch und gerade in lange kolonial oder semikolonial beherrschten Weltregionen. Zu Optimismus hinsichtlich einer multilateralen Verständigung besteht m.E. wenig Anlass, zumal sich die wohlhabenden Länder des Nordens schon intern als wenig kompromiss- und verzichtbereit erweisen. Gesellschaften, die Dieselsubventionen, Kreuzfahrten oder Flugreisen als individuelle Freiheitsrechte missverstehen, werden vermutlich die Erderwärmung entweder weiter bestreiten oder ihre Bekämpfung auf eine Zeit verschieben, wenn die Möglichkeiten dazu kaum noch existieren. Die kapitalistischen Großunternehmen der Energiebranche antizipieren das, indem sie massiv in die Erschließung neuer Ölvorkommen investieren.
Damit habe ich mich bereits recht weit dem zum Abschluss gewünschten politischen Ausblick angenähert, und zwar so weit, wie ich das für einen Historiker für angemessen halte. Nachtragen muss ich aber noch die Beantwortung der vierten Frage, die auf die Rolle der Gewalt zielte und überdies die Erreichbarkeit von Wohlstand und Klimagerechtigkeit im monopolistischen Nationalstaat in Erwägung zog. Aber vielleicht muss ich dazu nur Dinge explizieren, die ich bereits angedeutet habe. Wohlstand innerhalb eines abgeschotteten Nationalstaats anzustreben, ist allenfalls für Länder eine Option, die wie China oder die USA sowohl über einen riesigen Binnenmarkt verfügen als auch über die allermeisten Rohstoffe und Bodenschätze. Und selbst diese beiden Länder gehen diesen Weg nicht, sondern exportieren so viel sie können, wie China, oder importieren weit mehr als sie exportieren, wie die USA, weil der Charakter des Dollars als Leitwährung der Welt immense Handelsbilanzdefizite erlaubt. Was die Klimagerechtigkeit angeht, sind binnenstaatliche Wege zwar prinzipiell gangbar – Steffen Mau und seine Koautoren haben ja vor wenigen Jahren ein System handelbarer Verschmutzungsrechte vorgeschlagen – aber eine Lösung des Gesamtproblems, sprich: eine deutliche Verlangsamung der Erderwärmung ist nur im globalen Rahmen denkbar. Aber auch da sind wir von den „transnationalen Versammlungen“, die Thomas Piketty vorgeschlagen hat, „denen idealiter die globalen öffentlichen Güter wie eine gemeinsame Politik der Steuer- und Umweltgerechtigkeit anvertraut wären“, weit entfernt. Werfen wir deshalb lieber nochmal einen Blick in die jüngste Vergangenheit. US-Präsident Bush hatte ja zum Thema Energieeinsparung erklärt: - „The American way of life is not negotiable.“ – und dem womöglich nächsten US-Präsidenten ist eine ähnliche Haltung zuzutrauen. Jenseits dieser beiden Personen ist indessen zuzugestehen, dass nicht nur der amerikanische Wohlstand nach dem Zweiten Weltkrieg in hohem Maße auf billigem Öl basiert. Ökologisch hat das die große Beschleunigung gebracht, von der in Diskussionen des Anthropozäns oft die Rede ist. Und historisch ist unübersehbar, dass die USA mit allen politischen, militärischen und geheimdienstlichen Mitteln insbesondere im Nahen Osten dafür gekämpft haben, dass weiterhin billiges Öl von dort geliefert wurde. Optimistisch stimmt das, um von der Gewaltfrage noch einmal zum politischen Ausblick zurückzukommen, nicht. Und zu diesem Ausblick gehört auch die Ungewissheit, ob sich der Übergang von der Hegemonie des US-Kapitalismus hin zu einer bipolaren Weltordnung mit dem chinesischen Staatskapitalismus als zweiter Hegemonialmacht weiter ohne offene militärische Auseinandersetzung vollziehen wird.“
Rottenburg, 01.08.2024/Karl Schneiderhan und Hans-Ullrich Brändle
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