1. Begrüßung und Einführung (Winfried Thaa)
Auf den ersten Blick könnte man meinen, wir hätten mit unserem heutigen Thema, der Bedrohung der Demokratie, hellseherisch den Ausgang der US-Wahl und das Ende der Ampelkoalition in Deutschland vorweggenommen. Das stimmt so allerdings nicht.
Das Thema steht bereits länger fest und an Büchern zum Niedergang der Demokratie herrscht seit vielen Jahren kein Mangel. Bereits in den 1990ern, kaum dass die liberalen Demokratien des Westens ihren Sieg über den sowjetischen Kommunismus gefeiert hatten, erschienen erste Bücher, die den Niedergang oder das Ende der Demokratie voraussagten. So lautete 1994 der Titel eines Buches von Jean Marie Guéhenno „Das Ende der Demokratie“. Am einflussreichsten unter den frühen Abgesängen auf die Demokratie war dann der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch mit seinem Buch „Post-Democracy“ von 2004. Er behauptete, mit dem Ende des keynesianischen Ausgleichs zwischen Arbeit und Kapital und dem Siegeszug des Neoliberalismus hätten wir es im Westen nur noch der Fassade nach mit Demokratien zu tun.
Diese frühen Abgesänge auf die Demokratie stießen noch auf vielfachen Widerspruch. Heute, nach dem seit Jahren anhaltenden Aufstieg des Rechtspopulismus in Europa und den Wahlerfolgen Trumps, häufen sich die Endzeitdiagnosen und Kassandrarufe. Um nur drei Titel der letzten Zeit zu nennen: Was stimmt nicht mit der Demokratie? Von Klaus Dörre u. a. 2019, Die demokratische Regression von Arnim Schäfer und Michael Zürn 2021 oder Demokratiedämmerung von Veith Selk, das 2023 erschienen ist und schon die 3. Auflage erfahren hat.
Es scheint Endzeitstimmung zu herrschen und nach meinem Eindruck finden sich auch immer weniger Verteidiger der Demokratie. Und nun das 2024 auf Deutsch (engl. 2022) erschienene Buch Zerfallserscheinungen der Demokratie, mit dem wir uns heute beschäftigen. Die Autoren lassen an Prominenz nichts zu wünschen übrig: Craig Calhoun ist ein amerikanischer Soziologe, der Direktor der „London School of Economics“ war und zuvor für seine Studien über die Anfänge der Arbeiterbewegung und die chinesische Studentenbewegung 1989 bekannt wurde. Charles Taylor ist einer der bekanntesten politischen Philosophen der Zeit, Kanadier, mittlerweile 93 Jahre und in seiner internationalen Wirkung durchaus mit Autoren wie Jürgen Habermas oder John Rawls zu vergleichen. Er ist u. a. Autor von Büchern über Hegel, Multikulturalismus oder im 1996 erschienenen Quellen des Selbsts zur Geschichte der neuzeitlichen Identität. Dilip P. Goankar schließlich, ein amerikanischer Professor indischer Abstammung, in Deutschland weniger bekannt als die beiden anderen, hat mehrere Bücher im Bereich der sog. Cultural Studies veröffentlicht, etwa 2007 Cultures of Democracy.
Das Besondere am Buch der drei Autoren, vor allem im Vergleich zu der von mir genannten Endzeitliteratur, liegt nicht darin, dass sie ungewöhnlich prominent sind. Interessanter ist, dass sie nicht am Überbietungswettbewerb der verschiedenen Untergangsszenarien teilnehmen, sondern sich darum bemühen, Auswege aufzuzeigen und Ansatzpunkte für eine Wiederbelebung der Demokratie benennen. Die Autoren sind der kommunitaristischen Richtung im politischen Denken zuzuordnen. Sie fragen nach Möglichkeiten, soziale Ungleichheit zu verringern, Solidarität und Gemeinwohlorientierung zu stärken und Bürgern wieder mehr Einfluss auf die Gestaltung ihres Zusammenlebens zu geben. Ich vermute, dass Wolfgang Hesse sich nicht zuletzt deshalb zur Vorstellung dieses Buch entschieden hat.
2. Buchvorstellung ‚Zerfallserscheinungen der Demokratie‘ (Wolfgang Hesse)
Zur Präsentation
3. Diskussionsbeiträge (Protokoll Karl Schneiderhan)
- Die Weltklimakonferenz zeigt, die im Buch skizzierte Doppelbewegung funktioniert bei diesem Thema kaum. Die Industrieländer investieren in besonders gefährdeten Regionen der Welt für den Klimaschutz nach wie vor zu wenig Geld.
- Die Autoren erwähnen zwar u. a. die Bewegung ‚Fridays for future‘, ansonsten spielt das Klimathema im Analyseteil kaum eine Rolle. Die Autoren betonen aber, dass bei den von ihnen geforderten neuen sozialen Bewegungen neben der Verteilungsfrage der Klimaschutz als zentraler Handlungsbedarf hinzukommt. Entscheidend sei aber nicht die Diagnose, sondern die Therapie. Letztere sei etwas blauäugig beschrieben, denn es wird nicht gesagt, wie die vorgeschlagenen Bewegungen zustande kommen sollen. Zudem seien diese Bewegungen oftmals kurzlebig oder hätten sich stark radikalisiert und dadurch weniger Einfluss auf die Meinungsbildung.
- Eine Gefährdung der Demokratie erwächst auch aus der Überschätzung mancher Politiker hinsichtlich ihres Wählerauftrages, so bei geringer Wahlbeteiligung oder geringer Stimmenzahl. Auch entstehe, wie jetzt in den USA, ein Interessenskonflikt, wenn der reichste Mann der Welt und Unternehmer ein politisches Amt übernimmt.
- Trump und AfD versprechen ein Zurück zu guten alten Zeiten und wollen nötige Veränderungen stoppen, u. a. Maßnahmen gegen den Klimawandel. Dagegen fordern moderne, soziale Konzepte mehr Gemeinwohlorientierung. Allerdings fehlen für die Umsetzung dieser Ziele politische Mehrheiten. Zudem wirken soziale Bewegungen nicht mehr so dynamisch. Armin Nassehi wirbt dafür, weniger große politische Konzepte zu verfolgen, sondern mehr die kleinen, oft wenig in der Öffentlichkeit wahrgenommenen Projekte, in denen viel positive Veränderung geschieht, in den Blick zu nehmen und zu unterstützen.
- Enttäuschend sei, dass im Buch wenig Konkretes zu lesen sei, wie die Gemeinwohlorientierung Realität werden könnte. Verschiedene soziokulturelle Milieus, wie sie im Vortrag für die deutsche Gesellschaft gezeigt wurden, schützen nicht automatisch vor Polarisierung. Wie die Entwicklung in den USA, aber auch in anderen Ländern zeigt, lassen sich sehr unterschiedliche Milieus in einer Art Gegenmobilisierung zusammenführen. In der politischen Wirklichkeit der letzten Jahrzehnte findet weniger positive Integration der Milieus statt zugunsten verschiedener Vorstellungen des Gemeinwohls statt, als vielmehr Polarisierung durch Populisten von rechts und links.
- Die Divergenz, unterschiedliche Meinungen und Einschätzungen, in Bezug auf globale Probleme ist groß. Im Kern haben wir keine Klimakrise, sondern eine Gesellschaftskrise. Demokratie scheint überfordert, Probleme zu lösen. Die Folge ist, ein Teil des Volkes sieht die Lösung eher in autokratischen Systemen.
- Das Mehrheitswahlsystem in den USA führt zu einer Polarisierung der politischen Kräfte, denn große Teile sehen sich in Parlamenten nicht vertreten. Im Unterschied sind bei uns aufgrund des Verhältniswahlrechts verschiedene politische Gruppierungen parlamentarisch repräsentiert.
- In allem geht es um die Machtfrage, wer kann seinen Willen durchsetzen. Die Schwäche der Demokratie ist, dass sie auf Ausgleich angelegt ist. Als problematisch wird die Einschätzung des Populismus angesehen, wonach der Populismus ein unverzichtbarer Mechanismus sei, um Verfehlungen der Eliten zu hinterfragen. Populistische Strömungen hätten das Interesse, die Demokratie zu schwächen. Wichtig sei daher eine fundierte Information der Wähler. Allerdings werde diese durch soziale Medien erschwert, in denen es oft um Stimmung und Hass geht und schwierig herauszufinden ist, was wahr ist. Deshalb muss sich die Demokratie gegenüber sozialen Medien wehrhafter zeigen.
- Die deutsche Regierung erweckte in den letzten Jahren den Eindruck, dass sie mit den zu lösenden Problemen nicht kompetent umgeht. Probleme müssten realistisch benannt werden, eine Demokratie muss dann aber auch kräftige und klare Entscheidungen treffen, sodass die Bürger sehen, Probleme werden gelöst, z. B. bei Migration, Klimawandel, Wirtschaft oder Mobilität.
- Lebendige Demokratie lebt vom Mittun und Gemeinwohl entsteht aus gemeinsamer Not. Jeder Einzelne muss sich fragen, was er tun kann. Ansonsten besteht die Gefahr, dass Demokratie zum Spielball von Populisten wird.
- Zentral sei die Selbstwirksamkeit. Kindern und Jugendlichen sollten Anhaltspunkte vermittelt werden, was wahr ist und was nicht. Zudem sei es wichtig, gelungene, praktische Ansätze öffentlich zu machen. Wenn der Eindruck entsteht, es geschehe zu wenig, führe dies zur Lähmung. Erzählen, was an Initiativen und Erfolgen passiert.
- Je stärker sich in einer Gesellschaft Ohnmacht breit macht, desto mehr wächst aggressive Individualität. Es gelte, Demut zu praktizieren und bewusst zu machen, wir sind selbst gefragt. Nur die Demokratie, die wir leben, hat Zukunft. (O. Negt)
- Wir müssen neue Verbindungen schaffen im wirtschaftlichen und kulturellen Bereich, global, regional und lokal. Viele Gruppierungen seien weltweit unterwegs. Umso wichtiger ist es, sich zusammenzuschließen.
- Wolfgang Hesse erinnert abschließend an die Kernaussage des Buches: Die Lebensverhältnisse bestimmen die Qualität der Demokratie. Werden diese instabil, wächst auch die Gefahr, dass sich Bürger Populisten oder Extremisten anschließen. Ein Beispiel aus einem Ort in Italien zeigt, werden die Lebensverhältnisse verbessert, führt dies zu einem Rückgang populistischer Wähler. Um Demokratie zu stärken, muss daher stets erstes Ziel sein, die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern.