Als Teil der älteren Generation war es uns vergönnt, über Jahrzehnte gesellschaftliche Entwicklungen in Städten und Gemeinden mitzuverfolgen. Dies gilt im Besonderen für das Thema ‚Stadtentwicklung‘, mit dem jeder vielfältige und gegensätzliche Erfahrungen verbindet.
Ich erinnere mich an meine Kindheit und Jugendzeit, als nach Kriegsende städtebauliche Planungen vorrangig dem Wiederaufbau und der Versorgung der Bevölkerung mit Wohnungen galten. Aber bereits beim Wiederaufbau zerstörter Städte entbrannte ein Richtungsstreit zwischen Orientierung an der traditionellen Stadt und einer Fortführung der Moderne. Bestehende Eigentumsstrukturen ließen aber damals keine umfassende Bodenneuordnung zu. So vollzog sich der Wiederaufbau, insbesondere in den Altstädten, zu großen Teilen auf dem bestehenden Stadtgrundriss. Für die Anpassung an neue Verkehrsverhältnisse wurden zwar notwendige Erweiterungen der Verkehrsflächen oder Straßendurchbrüche vorgenommen, man handhabte den Wiederaufbau aber eher pragmatisch unter Vorrang verkehrlicher Belange.
Bereits einige Jahre später entstanden mit dem Leitbild ‚Urbanität durch Dichte‘ mit einer kompakten Bauweise, dem Wohnhochhaus durch zusammenhängende geschlossene Räume neue urbane Stadtstrukturen. Diese waren verbunden mit höherer Dichte, da durch die Lockerung der staatlichen Bodenpreisbindung die Bodenpreise enorm stiegen und somit die aufgelockerten Siedlungsstrukturen nicht mehr finanziert werden konnten. Neue Siedlungseinheiten wurden für eine größere Zahl an Einwohnern und Wohneinheiten als Großsiedlungen angelegt. In der Folge entstanden große, städtebaulich und architektonisch eintönige Siedlungen. Beispiele dafür sind das Märkische Viertel in Berlin, München-Neuperlach, Frankfurt-Eschborn, Dortmund-Scharnhorst, Stuttgart-Fasanenhof oder im kleineren Maßstab der Stadtteil Waldhäuser-Ost in Tübingen.
Als man sich Mitte der 70er Jahre den Grenzen des Wachstums bewusster wurde, führte dies auch bei der Stadtentwicklung zu einer Trendwende. Entsprechend dem Motto des Deutschen Städtetages 1971 „Rettet unsere Städte“ wurde nun dem Baubestand und Erhalt des historischen Erbes größere Wertschätzung beigemessen. Dieses Verständnis verstärkte sich mit dem europäischen Denkmalschutzjahr 1975. Man begann mit der Modernisierung der Bestandsgebiete im Sinne erhaltender Erneuerung, um die Lebens- und Aufenthaltsqualität zu verbessern.
Ich erinnere mich noch gut an meine Studentenzeit und ersten Berufsjahre in Tübingen, das war Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, als auf Waldhäuser-Ost ein neuer Stadtteil aus dem Boden gestampft wurde. Zudem gab es Planungen, in der Innenstadt Häuserzeilen abzureißen, um mitten durch Tübingen vierspurige Straßenzüge zu bauen, u. a. eine vierspurige Nordtangente von der Innenstadt auf den Berg, die allerdings durch einen Bürgerentscheid verhindert wurde. Diese Planungen brachten dem damaligen Leiter des Straßenbauamtes, Oberregierungsrat Karl Schweizerhof, den Spitznahmen ‚Asphaltbomber‘ ein. Ich erinnere mich aber ebenso an die nur kurze Zeit später in Gang gekommene Planung zur Altstadtsanierung, ein Stadtbild, so wie wir es heute noch kennen.
Dieser kurze Blick zurück zeigt, die Stadtentwicklung stellte unter den jeweiligen, sich verändernden Rahmenbedingungen für jede Stadt eine existentielle Herausforderung dar. So lohnt es also, der Frage nachzugehen, wie wir unsere Städte so entwickeln, dass diese auch morgen lebenswert und bewohnbar bleiben. Dieser Aufgabe widmet sich eine Stadtentwicklung, indem sie Strategien und Konzepte für die künftige räumliche und strukturelle Gesamtentwicklung einer Stadt erarbeitet. Wie in vielen Städten und Gemeinden, wurde auch für die Stadt Rottenburg ein Stadtentwicklungskonzept erarbeitet, erstmals vor knapp 30 Jahren unter dem damaligen OB Klaus Tappeser, das seitdem mehrfach fortgeschrieben wurde bis zum Stadtentwicklungskonzept 2030.
Wir freuen uns, dass wir als Gesprächspartnerin zum Thema ‚Stadtentwicklung‘ heute eine ausgewiesene Expertin begrüßen können: Frau Annette Schwieren, seit wenigen Monaten Baubürgermeisterin in Rottenburg. Seien Sie herzlich willkommen. Frau Schwieren ist von ihrer Profession her Architektin, hat in mehreren Architekturbüros gearbeitet und wohnt seit über 10 Jahren mit ihrer Familie in Rottenburg. Zuvor war Frau Schwieren, wenn auch nur kurze Zeit, bei der Universitätsstadt Tübingen Leiterin des städtischen Fachbereichs Hochbau. Auch für die Stadt Rottenburg gibt es hinsichtlich ihrer Weiterentwicklung einige Herausforderungen. Insofern sind wir gespannt auf Ihre Ideen und Vorstellungen, vor allem aber, welches Entwicklungspotential Sie sehen, ob in der Altstadt, der Kernstadt insgesamt oder in den 17 Teilorten unserer Stadt.
Vorwegschickt soll sein, dass der folgende Vortrag keinen wissenschaftlichen Anspruch erfüllt, sondern meine persönliche Haltung und mein Bild zum Ausdruck darlegt.
Der Fragestellung, die mir gestellt wurde habe ich mich über die drei zentralen Begrifflichkeiten genähert: Stadt – Rottenburg - Entwicklung
Stadt
Zunächst also die Frage: Was ist „Stadt“ überhaupt. Je nach Betrachter und Perspektive fällt die Antwort sicher sehr unterschiedlich aus. Einige meiner Antworten könnten sein:
Stadt ist gebaute Geschichte, sie ist organisiertes Zusammenleben, Nachbarschaft, Heimat, Stadt ist ein Ort, der sich aus vielen Bauwerken zusammensetzt, dieser ist überwiegend steinern und grenzt sich an den Rändern gegen die weniger steinerne Umgebung ab. Stadt ist Lebensraum, mit eigenem Geruch und Klang, Stadt ist Ort vielfältiger wirtschaftlicher Aktivität. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Je nach persönlicher Prägung und Wahrnehmung ist Stadt für uns alle - und wahrscheinlich jeden von Ihnen - etwas anderes, individuelles. Sicher ist jedoch, dass wir uns bestimmt auf einige Gemeinsamkeiten festlegen können.
Ich könnte auch folgern, dass aufgrund der Tatsache, dass wir mehrheitlich friedlich in unseren Städten zusammenleben, Stadt Abbild eines großen gemeinsamen Kompromisses ist, auf den sich ihre Bewohner … mehr oder weniger einmütig … gemeinsam verständigt haben.
Ich möchte daher gerne aus dem Buch „Die DNA der Stadt“ zitieren:
„Oft sind es die Lebendigkeit und die Vielschichtigkeit, die uns an der Stadt gefallen, mal sind es die kulturellen Möglichkeiten – selbst wenn wir sie nicht immer nutzen, mal ist es die Anonymität, die uns die Chance gibt, uns neu zu erfinden oder aber auch die gute Nachbarschaft in unserem Stadtteil. Manch einer fühlt sich wohl und geborgen am Rande der Stadt im Übergang zur Landschaft, ein anderer mag die Dichte und Enge der Altstadt. Der eine nimmt die Stadt so, wie sie ist, ein anderer beschäftigt sich mit ihrer Geschichte, ein Dritter blickt in die Zukunft der Stadt. …. Städte sind gewachsen oder geplant, sie weisen grobe oder feine Körnigkeiten auf, sind mal homogen gegliedert, mal scheinbar chaotisch oder zeigen offensichtlich planmäßige Symmetrie.“
Rottenburg
Wenn wir uns daher nun mit dem zweiten Punkt - mit „Rottenburg“ - beschäftigen kommen wir vermutlich sehr schnell auf ein paar wesentliche Punkte, auf die wir uns verständigen können: Rottenburg soll lebenswert sein und bleiben. Eine wirtschaftlich attraktive, sichere, gepflegte Stadt, mit guten Angeboten, guter Infrastruktur und Versorgung. Gleichzeitig soll sich Rottenburg aber nicht allzu sehr verändern – es ist ein bisschen so, dass am besten alles ein bisschen so bleibt wie es immer schon ist.
Entwicklung
Und damit sind wir beim dritten Punkt, der „Entwicklung“. Es ist ja so, dass sich die Dinge immer ändern. Ob wir das nun wollen oder nicht, spielt dabei eigentlich keine Rolle.
Das Leben beinhaltet den stetigen Wandel, die stetige Veränderung. Übertragen auf die Stadt bedeutet das - sie ist niemals fertig. Das, was wir heute als gebaute Stadt sehen, ist das gebaute Abbild der Vergangenheit. Menschen haben, auf begrenzter Fläche, einen Rahmen für ihr jeweiliges Zusammenleben geschaffen.
Mit der Zeit, mit neuen Bedürfnissen, Fortschritten, Einflüssen von außen wie Klima oder Krieg hat sich diese Stadt stetig gewandelt - weiterentwickelt. Ab dem Moment ihrer Gründung ist Veränderung damit das Wesen einer Stadt. Stadt entwickelt sich mit der Zeit von selbst, sowohl aus sich heraus als auch aufgrund äußerer Einflüsse. Das Resultat ist die Stadt wie wir sie heute kennen.
Was dann also zur Frage führt was für mich „Stadt – Entwicklung“ in diesem Sinne bedeutet. Denn wenn die Stadt das Abbild der Vergangenheit ist und die Entwicklung eigentlich aus sich selbst heraus geschieht, könnte ich so antworten, dass Stadtentwicklung der Versuch ist, die Zukunft vorauszuplanen. Und dabei gehen wir gleichzeitig auf diese Zukunft eine Wette eingehen. Eine Wette darauf, dass wir zu wissen glauben was passieren wird. An vielen Städten können wir das beispielhaft nachvollziehen.
Beschäftigen wir uns daher zuerst mit den „guten, gelungenen“ Beispielen dann zeigt sich, dass sich beispielsweise fast alle römischen Stadtgründungen auf dem einstmals angelegten Grundraster weiterentwickelt haben. Noch heute ist dieser Grundplan sichtbar und bildet nach wie vor das Grundkonzept des Stadtplans, die Stadt selbst weist aber ein ganz anderes Stadtbild als damals auf.
Auch die im Mittelalter gegründeten Städte sind in den Zentren in ihrem Grundcharakter in der Regel nicht wirklich verändert worden. Sie sind in den folgenden Jahrhunderten meist ringförmig gewachsen. Diesen Städten, den römischen und mittelalterlichen ist eigen, dass sie langsam und stetig gewachsen sind. Jede Zeitepoche konnte ihre Spuren hinterlassen, was zu einer Vielfalt geführt hat, die wir heute als das Bild von Stadt kennen und dies meist auch mögen. Dieses Bild ist uns vertraut. Und wenn diese Städte heute einigermaßen gepflegt, sicher und belebt sind, mögen wir sie gerne.
Bei den negativen Beispielen ist oft das Muster erkennbar, dass es in einer kurzen Zeitspanne eine schnelle, bauliche Entwicklung gab. Der dabei angesetzte Maßstab war nicht die vorhandene Umgebung, die ergänzt oder in die sich eingefügt werden musste.
Oft wurde eine rein auf dem Papier entstandene theoretische Planung „auf der grünen Wiese“ ohne Umgebungsbezug umgesetzt. Beispielhaft zu nennen sind die in serieller Bauweise errichteten sehr ähnlichen Gebäude, die eine strenge Einheitlichkeit aufweisen – Trabantenstädte, Hochhauswohn- oder Plattenbausiedlungen endlosen Ausmaßes.
Oder es wurde der jeweils geltende aktuelle technologische Fortschritt als Grundlage für die Planung genommen. Ergebnis waren z.B. die autogerechte Stadt mit Stadtautobahnen, Hochstraßen und gesichtslosen Schneissen als Fremdkörper in einer gewachsenen Struktur. Diese Städte bilden oft auf einer großen Fläche eine sehr kleine historische Zeitspanne ab, geschaffen für die Bedürfnisse und den Fortschritt weniger Jahre.
Hat sich dieser Fortschritt überholt, funktionieren diese Konstrukte plötzlich nicht mehr. Die Dimensionen sind zu groß, als dass der Einzelne oder eine überschaubare Anzahl von Menschen dort etwas am Gesamtbild verändern können.
Bei den gewachsenen Orten gibt es dagegen eine Vielzahl von Lücken, Nischen, Plätzen, Räumen, an denen der Einzelne Einfluss nehmen und etwas verändern – etwas entwickeln – Stadt entwickeln – und einwirken kann.
Bei der Bewertung betrachten wir Städte und ihre Entwicklung in der Regel aus heutiger Sicht und überprüfen dabei, wie wir unser modernes Leben dort unterbringen können. Der Maßstab aus der Errichtungszeit ist dann nicht mehr alleinig relevant. Dort wo möglich, passen wir die Stadt und unsere Umgebung an unsere heutigen Bedürfnisse an. Da dies fortlaufend geschieht könnte man sagen, dass wir mit dem Weiterbau die Vergangenheit der zukünftigen Zukunft errichten. Die Entwicklung geschieht somit aus sich selbst heraus.
Dort, wo wir das nicht zulassen oder Rahmenbedingungen es nicht ermöglichen, findet diese Entwicklung nicht statt. Dort gibt es dann in der Folge Stagnation, Stillstand und sogar Rückschritt.
Nur an einigen wenigen Orten sind wir übereingekommen, dass eine Entwicklung nur eingeschränkt stattfinden soll, z. B. in unseren denkmalgeschützten Altstadtkernen, besonderen Fabrikgebäuden, beispielhaften Wohnsiedlungen wie z. B. der Weißenhof-Siedlung in Stuttgart. Dort können wir keine an die heutigen Bedürfnisse angepassten Nutzung unterbringen und akzeptieren das. Wir müssen an diesen Orten Kompromisse eingehen, was mit zunehmendem, weiterem technischem Fortschritt immer schwieriger wird. Fast kein altes Opern- oder Konzerthaus kann mehr heutige Bedürfnisse erfüllen.
Daher sehe ich die zentrale Thematik bei der Stadtentwicklung in der Frage nach den „Spielräumen“.
Die Befassung ob und wozu wir Stadtentwicklung tatsächlich einsetzen ergibt sich für mich nicht, da die Entwicklung per se aus einer sich täglich verändernden Welt geschieht. Vielmehr erachte ich es für essentiell, dass wir uns kurzfristige Handlungsspielräume offenhalten. Also Planungen so anlegen, dass ein angemessenes Reagieren möglich ist und wir zu starke Restriktionen von vornerein und auch für zukünftige Entwicklungen erst gar nicht implizieren. Die finanziellen Mittel müssen so eingesetzt werden, dass wir von Maßnahmen möglichst lange profitieren. Entscheidend ist daher für mich der Rahmen, den wir uns geben und den es zu gestalten gilt, um die Spielräume für Handlungsfelder offenzuhalten. Sind wir dabei auch bereit Neues, Unbekanntes zuzulassen? Können wir es aushalten, nicht alles im Vorfeld kontrollieren zu wollen und nach festen Vorgaben und Regeln zu gestalten. Finden wir dafür einen Konsens? An vielen Stellen erkennen wir, dass der vorhandene gesetzte Rahmen gar keine Entwicklung mehr zulässt. Dabei wissen wir einerseits, dass wir Weiterentwicklung brauchen und damit Unbekanntes einhergeht, andererseits soll und darf sich aber nichts … vor allem nicht negativ … verändern. Das schließt sich so aber aus.
Schnell kommen uns dabei die negativen Beispiele ins Gedächtnis. Wir wollen negativ besetzte Entwicklung verhindern, tendieren daher oft dazu nichts zuzulassen und nicht ins Risiko zu gehen. Damit verbunden die Hoffnung, dass sich möglichst wenig verändert, es aber trotzdem besser wird – ich hatte es anfangs erwähnt. Das ist völlig nachvollziehbar, hat aber zur Folge, dass eben keine neue Entwicklung stattfinden kann.
Auch in Rottenburg gibt es dafür Beispiele.
Eines der prägnantesten ist für mich der zunehmende Leerstand in der Innenstadt, an dem ich beispielhaft verschieden von mir angenommene Zukunftsszenarien skizziert werden können:
Entweder müssten die Rottenburgerinnen und Rottenburger ihre Einkäufe konsequent in der Innenstadt erledigen und dafür Sorge tragen, dass der Innenstadthandel für die Geschäftstreibenden rentabel ist. Es ist zu erahnen, wie das ausgehen könnte.
Oder wir müssten uns von dem lieb gewonnenen Bild der Altstadt verabschieden und Umbau oder Neubau in größere Stile akzeptieren. Auch hier lässt sich erahnen mit welchen Themen wir uns beschäftigen müssten, wenngleich an einigen Stellen der Stadt dieser Transformationsprozess schon stattgefunden hat …
Oder es müsste akzeptiert werden, dass Leerstand so lange vorhanden ist, bis sich „von selbst“ etwas Neues entwickelt. Was im Übrigen gar nicht so ungewöhnlich wäre, noch vor nicht allzu langer Zeit war ein Großteil der heutigen Erdgeschoßflächen der Innen- und Altstadt-Häuser mit Handwerk, Werkstätten und Produktion belegt. Damals konnte sich sicher niemand vorstellen, wie die Stadt ohne diese Nutzung aussehen und funktionieren kann.
Ein weiteres Thema sind Klimaschutz und Energieversorgung. Hier sind wir mittlerweile angekommen in einem Transformationsprozess. Die Frage, ob wir diese Entwicklung „wollen“, stellt sich nicht mehr. Es gibt mittlerweile ausreichend ausgereifte Technologien für unterschiedlichste auch individuelle Lösungen, die bisher unvorstellbar waren und nun in Umsetzung sind.
Beispielhaft steht die bis dato flächendeckend übliche Versorgung mit Strom und Gas daher vermutlich für ein Auslaufmodell, das aus wirtschaftlichem Grund vielerorts für den Einzelnen nicht mehr sinnvoll abbildbar ist. Ich gehe davon aus, dass die Entwicklung dahin geht, dass es nicht mehr die „eine“ Versorgungslösung geben wird, sondern viele unterschiedliche und individuelle. Sinnvoll ist es m. E. daher dem Thema mit Neugier und Technologieoffenheit zu begegnen und dort Rahmenbedingungen zu schaffen und Unterstützung zu leisten, wo dies notwendig und gewünscht ist. Am Ende könnten die vor der Haustür liegenden vorhandenen „kostenlosen“ Ressourcen wie Wind, Sonne, Erdwärme, etc. sowohl ökologisch als auch wirtschaftlich zu einer Win-Win-Situation für alle führen.
Im Sinne der Stadtentwicklung ist für mich die Frage „Wie viel Spielraum wir uns geben wollen, um Entwicklung und Neues zuzulassen“ das Kernthema.
Damit meine ich Entwicklung als Reaktion auf äußere Umstände in einem gesetzten Rahmen, Entwicklung im Sinne des Fortschritts, Entwicklung als Chance.
Und wie kommen wir zu einem gemeinsamen Konsens dessen, was am Ende nicht der „Kleinste gemeinsame Nenner“ ist und nicht aus dem Geist der Angst heraus entstanden.
Ich möchte gerne unterstellen und davon ausgehen, dass jeder, der sich in irgendeiner Weise an der Entwicklung Rottenburgs beteiligt hat, dies in guter Absicht getan hat.
Ich gehe nicht davon aus, dass Menschen wollen etwas „schlecht“ machen wollen. Wir haben ggfs. unterschiedliche Sichtweisen und Bewertungen der zu lösenden Aufgaben kommen daher zu anderen Schlüssen, weshalb ich mir die Fragen stelle wo und in welchen Bereichen wir die Spielräume benötigen, um Entwicklung zu ermöglichen. Wie viel Neues wollen wir zulassen? Wo wollen wir korrigieren und anpassen?
Und neben der Frage, welche Aufgaben es gibt, gilt es noch zu beantworten, wer die Akteure sind.
Und damit bin ich bei einem weiteren zentralen Thema, nämlich wer für was verantwortlich ist. Dies wird für mich zunehmend zu einer gesellschaftlichen Kernfrage. Wir sollten die Frage stellen: Wer ist die „die Stadt“? Ist „die Stadt“ die Verwaltung, die „den Bürgerinnen und Bürgern“ etwas „zur Verfügung“ stellt? Gestaltet etwa die eine Seite und die andere konsumiert? Welche Rollen haben Bürgerinnen und Bürger, Politik, Verwaltung?
Wer hat Verantwortung für das, was sich im öffentlichen Raum abspielt?
Für mich sind alle die hier leben und sich aufhalten „die Stadt“. Ich denke, wir müssen wieder mehr dazu kommen, dass nicht alles „zur Verfügung“ gestellt wird, sondern, dass wir alle die Aufgabe haben diese Stadt, in der wir leben, zu gestalten. Wir alle müssen uns kümmern. Eine belebte Innenstadt werden wir nur dann haben, wenn wir dort auch einkaufen und wenn wir bisher nicht Bekanntes zulassen. Das „Wir“ sind wir alle.
Lebenswert ist es m. E. dann, wenn wir aufeinander Rücksicht nehmen, Acht geben, uns einsetzen. Vielleicht auch gerade dort, wo wir es eigentlich nicht „müssen“.
Natürlich muss es Rahmenbedingungen geben, die verbindlich und allgemeingültig unser Zusammenleben regeln. Darüber hinaus muss sich aber jede und jeder Einzelne selbst fragen, wo ihr oder sein Beitrag ist.
Für Rottenburg sind viele der Themen bekannt: Leerstand in der Innenstadt, Ansiedlung neuer Händler und Gastronomen, Schaffung von Wohnraum, Gewerbe- und wirtschaftliche Expansion, vielfältigere Verkehrskonzepte, Klimaanpassung, Umweltschutz.
Wir müssen uns gemeinsam die Fragen stellen wo die Hindernisse sind, die es auszuräumen gilt? Wie kommen wir zu dem Maximalkonsens dessen, was ermöglicht werden kann? Wer ist für was verantwortlich und zuständig?
Und dabei ist ebenso zentral das Thema „Wachstum“. Allein die Frage, die immer wieder gestellt bekomme wie viel Wachstum wir zulassen wollen, halte ich für nicht zielführend.
Wachstum geschieht, Schrumpfung ebenso. Wir in unserem Radius können es nur bedingt zulassen oder verhindern. Äußere Umstände ermöglichen und beenden Wachstum. Wir können damit umgehen, das wäre mein Ansatz. Da Entwicklung meiner Ansicht nach per se geschieht, könnte man in Bezug auf Wachstum daraus zwei logische Konsequenzen ableiten. Für die bisher von mir beschriebene Entwicklung im Sinne der Weiterentwicklung ist Wachstum die logische Folge. Das gegenläufige Modell wäre die Schrumpfung – in vielen Gebieten Deutschlands mittlerweile Realität.
Wenn es daher unser Wunsch ist, in einer weiterhin lebenswerten Stadt Zukunft zu haben, wird das meiner Ansicht nach nicht ohne wirtschaftliches Wachstum möglich sein. Zwangsläufig wird das Auswirkungen auf „die Stadt“ haben. Es gilt auszuhandeln welche das sind,
Stadtentwicklung setzt für mich an diesem Punkt an.
Mit der Stadtkonzeption 2030 gibt es bereits einen solchen Aushandlungsprozess. Darüber hinaus gilt es, für Ideen und Anstöße sensibel zu sein und aktuelle Impulse aufzugreifen und mit zu bearbeiten. Dem Leerstand in der Innenstadt kommen wir offensichtlich mit den bisherigen Rezepten nicht bei. Wir haben Gewerbegebiete mit riesigen, wenig oder ineffektiv genutzten Flächen, auf denen wir Entwicklung ermöglichen müssen. Und dennoch werden wir auch neue Gewerbeflächen brauchen.
Politik und Verwaltung sehe ich in erster Linie als Ideen- und Rahmengeber. Es wird immer wieder dargestellt, es gebe eine Trennung zwischen Staat und Bürgerinnen und Bürgern.
Diese Trennung halte ich für einen völlig verfehlten Ansatz, der verhindert, dass Menschen aktiv und innovativ werden.
Der Staat als Verwaltungsorgan sollte sich m. E. auf seine Kernthemen konzentrieren und mit seinen Instrumenten ermöglichen, den gesellschaftlichen Rahmen gemeinsam auszuhandeln und dies in den bestehenden demokratischen Strukturen. Die Kommunalverwaltung ist die unterste demokratische Ebene, die unser konkretes Zusammenleben organisiert. Der Staat mit seinen Institutionen kann nur dort sinnvoll agieren, wo alle gleichermaßen betroffen sind und dort wo es gilt Schwächere zu schützen.
Das Beispiel der Generationengerechtigkeit veranschaulicht das eindrücklich, denn Generationengerechtigkeit ist ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess, der im Miteinander stattfinden muss und nicht vorgegeben oder erzwungen werden kann. Alle Vorgaben und
Gelingen kann das Miteinander nur, wenn die Menschen als Einzelne sich einbringen und einsetzen.
Kommunikation
Das heißt also für uns alle, dass wir ins Gespräch kommen müssen, Themen und unterschiedliche Positionen offen ansprechen. Wissen – auch Fachwissen und fundierte Hintergründe müssen zugänglich sein und erläutert werden, um Menschen in die Lage zu versetzen Inhalte und Zusammenhänge zu verstehen.
Was ich Zusehens vermisse ist das Verständnis dafür auch die Gegenposition verstehen zu wollen und zu akzeptieren. Wie soll sonst eine gemeinsame Lösung, ein Kompromiss möglich sein. Die Einsicht, dass „der andere“ ebenso recht haben kann und dessen Position ernst zu nehmen, ist eine Haltung die uns guttun würde. In der Folge kann das bedeuten, dass wir alle eher in der Lage sind zu akzeptieren, dass ein allgemeiner Konsens den eigenen Interessen entgegensteht und dennoch mitgetragen werden kann.
Meine Aufgabe
Als Baubürgermeisterin habe ich im Gegensatz zu vielen anderen den Vorteil einen umfassenden Überblick über viele Themen zu bekommen. Ich sehe meine Aufgabe vor allem darin die losen Enden vieler Ideen zusammenzubinden und daraus Vorschläge zu entwickeln.
Schon jetzt zeigen sich mir viele Ansatzpunkte aber ich wünsche mir aber mehr Verantwortungsübernahme aus der Bürgerschaft für das gemeinsame Gelingen von Stadt.
Ich möchte Entwicklungen gerne ermöglichen, einen Rahmen dafür schaffen, auch dort wo es auch Engagement abseits der Verwaltung gibt. Die Stadtverwaltung und die Politik haben in den letzten Jahren vieles in Rottenburg möglich gemacht und umgesetzt. Es wurde umfangreich gebaut. Eugen-Bolz-Platz, Marktplatz, Königstraße, Stadtbibliothek, Schänzle, Neckarufer, Metzelplatz, Ortskernsanierungen, unzählige Schulen, Hallen, Kitas, Jeckel-Areal und vieles mehr.
Die Alt- und Innenstadt ist ein gutes Beispiel für die vielen losen Enden. Viele Gebäude sind nicht saniert, Mieten – gerade für Gewerbetreibende – sind viel zu hoch und unrealistisch. In den Erdgeschoßzonen nimmt der Leerstand zu. Wohnungen in den alten Häusern sind nicht mehr zeitgemäß, es gibt wenig private Außenfläche zum Aufhalten.
Am Beispiel der Alt- und Innenstadt wird also deutlich, wo die Verantwortlichkeiten und Handlungsspielräume von Bürgerinnen und Bürgern einerseits und allen anderen Akteuren andererseits für ein gelingendes Miteinander und eine schöne Stadt liegen.
Besonders angetan hat es mir die moderne skandinavische Architektur und Gestaltungslehre, dabei insbesondere der finnische Architekt und Designer Alvar Aalto.
Ich bin Architektin und Gestalterin und habe meinen Beruf immer gerne ausgeübt. Generell interessiere ich mich für den räumliche Kontext, das Gestalten im kreativen, aber auch allgemeinen Sinn. Proportionen, Anordnungen, Räume, Materialien, Oberflächen – in und außerhalb von Gebäuden faszinieren mich, insbesondere die moderne skandinavische Architektur und die dieser Architektur zugrunde liegenden Materialität. Herauszuheben ist hier der finnische Architekt und Designer Alvar Aalto, dessen Gebäude und Formensprache für mich zeitlos ist.
Wenn ich also ein Motto für meine zukünftige Aufgabe benennen soll, könnte die Antwort lauten: ‚Gestalten – in gemeinsamer Verantwortung‘.
Bei Nutzung von Geschäftsgebäude, so Frau Schwieren, ist Aufgabe der Stadt, zu prüfen, was zulässig ist. Es seien keine Vorgaben an Eigentümer möglich, an wen oder für was zu vermieten sei, wenn der Rahmen für eine Nutzung eingehalten ist. Wichtig sei zudem, zu berücksichtigen, was die Menschen wollen. Hier seien die unterschiedlichen Perspektiven zu sehen. Wenn man z. B. Schüler befrage, käme von dort vermutlich nicht die Einschätzung, dass es zu viele Dönerangebote gebe.
Das JVA-Gelände ist im Eigentum des Landes und stehe daher nicht zur Disposition, zumal seitens des Landes keine Planungen für einen Neubau an einem anderen Standort bekannt seien. Zudem würde eine Einbeziehung dieser Fläche die offenen Fragen in der Altstadt nicht lösen.
Frau Schwieren sieht die Aufgabe der Stadtverwaltung bei der Zusammenführung der einzelnen Impulse, gerade weil jede/r andere Prioritäten habe. Dabei sei die Konsensfindung als Gestaltungsprozess zu verstehen. Erforderlich sei in allen Bereichen eine aktive Bürgerschaft. Positives Beispiel seien die Vereine, die vielfältige Angebote für viele Menschen zur Verfügung stellen. Als gutes Beispiel für einen Prozess der Entscheidungsfindung nennt Frau Schwieren die Diskussion um die Gestaltung der neuen Stadtbibliothek.
Grundsätzlich sieht Frau Schwieren die Notwendigkeit der Bürgerbeteiligung insbesondere beim „Tun“. Jede/r muss aktiv werden. Insofern müsse eine Änderung der Haltung erreicht werden. Das Prinzip dürfe nicht das Warten auf die anderen sein, dass diese etwas tun. Ein Beispiel sei das an verschiedenen Stellen zu beobachtende Herumliegen von Abfällen. Früher sei die Verantwortung für die eigene Umgebung stärker wahrgenommen worden. Bei komplexeren Aufgaben sei aber im Blick zu behalten, wer welche Aufgaben innerhalb der demokratischen Struktur hat (repräsentative Demokratie).
Frau Schwieren stellt dazu fest, dass komplexe Vorhaben manchmal nicht einfach darzustellen seien, weil dazu fachliches Wissen oder Kenntnisse im Bereich Haushalt/Finanzierung erforderlich wären. Hier müssten die Bürger auch den von ihnen gewählten Gremien vertrauen. Allerdings sei noch mehr Erklärung der Hintergründe erforderlich.
Frau Schwieren sieht das Jeckel-Areal als zentralen Baustein für die Entwicklung des Rottenburger Stadtzentrums. Es wird dort ein Konglomerat vieler Nutzungen geben. Es soll ein belebter Ort bleiben. Gleichzeitig ist das Areal so zu konzipieren, dass bei neuen Erfordernissen später Veränderungen möglich sind.
Von einem Teilnehmer wurde darauf hingewiesen, dass in der Diskussion um die Konzeption auch alternative Vorschläge eingebracht wurden. Ein Mitglied des Gemeinderates ergänzte, dass dieses Projekt von der Stadt allein finanziell nicht zu stemmen gewesen wäre, deshalb habe man einen weiteren Big-Player beteiligt, in diesem Fall die Diözese.
Frau Schwieren stellt klar, dass es nicht darum gehe, Stadtentwicklung anderen zu überlassen. Entwicklung passiere zwar ohnehin, sie müsse aber kanalisiert werden. Bisher sei z. B. eine kleinteilige Bauweise bevorzugt worden. Es stelle sich die Frage einer verdichteten Bauweise auch in den Ortsteilen. Die Entwicklung auf dem DHL-Gelände bezeichnet Frau Schwieren als nicht gut. Die Entscheidung, so vorzugehen, sei mit der damaligen Perspektive und Bewertung gefallen, mit der Absicht es richtig zu machen.
Frau Schwieren verwies u. a. auf die vorhandene Stadtkonzeption 2030, in der z. B. folgende Aspekte enthalten seien: Aufwertung öffentlicher Flächen, Aufbau und Weiterentwicklung von Verknüpfungen, Einbeziehung der 17 Ortsteile in die Verknüpfungen. Wichtig dabei sei, zu wissen, was die Bürger denken. Daher seien Impulse aufzunehmen und sensibel mit diesen umzugehen. Eine Entwicklung müsse in der Gestaltung aber immer eine Offenheit haben: Was ist, wenn sich die geopolitische Lage weiter verändert?
Ergänzend wurde die Notwendigkeit projektbezogener Beteiligungsformate angesprochen. Als gelungenes Beispiel wurde auf die Erneuerung der Tübinger Straße in Herrenberg verwiesen. Dort seien gut verständliche Informationen für die Bürger zusammengestellt worden. Weiter wurde angemerkt, dass beim Landschaftsplan ein ausführlicher Beteiligungsprozess erfolgt sei. Wichtig sei letztlich, was umgesetzt werde. Die Bürger wollten ernst genommen werden.
Frau Schwieren betonte nochmals, dass viele verschiedene Perspektiven in einem Prozess aufgenommen werden müssen. Wenn immer die gleichen Personen in den Beteiligungsprozessen dabei sind, hat man nur einen kleinen Ausschnitt und möglicherweise eine Mehrheit, die nicht einverstanden ist.
Um sich in Rottenburg zu informieren, bestünde die Möglichkeit, die Sitzungen des Gemeinderats im Livestream zu verfolgen. Dies werde bisher von max. 100 Teilnehmenden pro Sitzung genutzt. Die Sitzungsunterlagen seien elektronisch einsehbar. Insgesamt gebe es viele Möglichkeiten der Teilhabe. Dafür sei die eigene Initiative erforderlich und nicht das Warten, dass andere handeln, und man selbst in der Konsumentenposition bleibe.
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