Aneignung scheinbar „herrenloser“ Natur, Ausbeutung ihrer Ressourcen mit intensivierter Vernutzung heißt Extraktivismus und ist Quelle allen Profits, meist auf Kosten aller! Laut amerikanischer Unabhängigkeitser-klärung von Thomas Jefferson zählt neben Leben und Freiheit auch das Streben nach Glück zu den unabänderlichen, gottgegebenen Rechten des Menschen. Welches Verständnis von Freiheit liegt aber der Verknüpfung von Glücksstreben und Extraktivismus zugrunde? Was bedeutet „Gutes Leben“ und kann ich ohne Glück der Anderen selbst glücklich werden? Das fragen sich Einige, die erkannt haben, dass kulturelle Unterschiede und spirituelle Gemeinsamkeiten dort verbinden können, wo die Einzelnen verletzlich sind. Akut stellt sich vielen Besorgten die Frage: wer oder was trägt „uns“, wenn nicht die Mitwelt? Wer sind diese „Vielen“ und wo finden wir sie? Können sie noch selbst mit anpacken, bevor auch sie den Verheißungen von Wachstum und Fortschritt zum Opfer fallen? Ob wir Antworten im „Parlament der Dinge“ nach Bruno Latour finden, bei Corine Pelluchon oder in der Enzyklika „Laudato Si“ von Papst Franziskus: über allem steht die Frage, wie wir der Natur global zu ihrem Recht verhelfen, bevor sie es selbst tut. Im Gespräch suchen wir nach Zusammenhalt, den wir für planetare Ko-Existenz dringend benötigen. Zwei religionskundige Philosophen helfen uns dabei.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebes Vorbereitungsteam, liebe Referenten,
„Philosophieren in der Klimakrise“, so heißt eine Veranstaltungsreihe der Volkshochschule Tübingen, die dort im Wintersemester 2024/25 erstmals und ab 5.6.2025 erneut 14-tägig im aktuellen Sommer-Semester der VHS Tübingen angeboten wird, nämlich von Dr. Christof Schilling, den ich hier zusammen mit Dr. Matthias Kramm sehr herzlich begrüßen darf.
Christof Schilling ist hierzulande bekannt: er hat Philosophie, Germanistik und evangelische Theologie auf Lehramt in Tübingen studiert und in Philosophie bei Prof. Helmut Fahrenbach und Prof. Reiner Wimmer über das Thema promoviert: „Moralische Autonomie. Anthropologische und diskurstheoretische Grundstrukturen.“ (Schöningh. 1994).
Bis zu seiner Pensionierung im Sommer 2024 war er Lehrer am Eugen-Bolz-Gymnasium Rottenburg und von 2009-2024 Dozent (erst Lehrbeauftragter, dann Fachleiter) am Seminar für Ausbildung und Fortbildung der Lehrkräfte an Gymnasien.
Matthias Kramm hat an der Hochschule für Philosophie in München (2005-2009), anschließend katholische Theologie in London (2011-2014) studiert und seine Promotion in Philosophie in Utrecht 2020 verteidigt. Der Titel seiner Doktorarbeit ist "Balancing Tradition and Development" und er hat sich darin mit ethischen Fragen der Entwicklungshilfe und Entwicklungspolitik in traditionellen und indigenen Gemeinschaften befasst.
Seit Oktober 2024 ist Matthias Kramm Akademischer Rat auf Zeit am Lehrstuhl für Ethik, Theorie und Geschichte der Biowissenschaften der Universität Tübingen.
Infolge seiner Forschung zum Thema "Rechte der Natur" hat er 2023 ein Buch herausgegeben („Rechte für Flüsse, Berge und Wälder. Eine neue Perspektive für den Naturschutz“, Oekom 2023).
Gemeinsam mit Matthias Kramm entstand aus der genannten VHS-Reihe von Christof Schilling Anfang Januar 2025 unsere Idee, dass wir uns heute im „Politischen Gesprächskreis“ mit Ihnen über „Menschenbilder“ verständigen wollen. Ein solches habe ich Ihnen mitgebracht: das Bild „Babylon“ vom spanischen Streetart-Künstler SAM3, das er in Schwäbisch Hall-Hessental in der Art eines Scherenschnitts 2017 an die Wand gemalt hat. (Im Rahmen des „Metropolink-Festival für urbane Kunst“ werden jährlich bekannte Graffiti-Künstler aus aller Welt nach Deutschland eingeladen. Die suchen sich Hauswände und bitten Besitzer um deren Einverständnis.)
Anhand dieses Beispiels möchte ich Ihnen zeigen, dass es bei Menschenbildern um eigene Ansichten geht, die jede/r von sich oder über sein Verhältnis zu anderen hat, wenn beiderseitige Vorstellungen und Meinungen verglichen werden, weil alle in wechselseitigen Beziehungen stehen.
Schauen wir uns das Fresko daraufhin kurz näher an: Unstrittig ist im vorliegenden Werk die Sicht des Künstlers auf Kopf und Körper: der Mensch ist zum größten Teil Produkt seiner Mitwelt. Diese These stützt sich schon allein auf die biologische Tatsache, dass jeder Mensch von Billionen Kleinstlebewesen besiedelt ist und mit ihnen im Sinne eines autonomen, zweiten Gehirns in Symbiose lebt (in Form des „Mikrobiom“ mit 500-1000 Bakterienarten); also: ohne Mitwelt im intakten Innenleben können wir nicht existieren!
Aber schauen Sie sich an, wie sich die Figur in Beziehung setzt! Reckt sie den Zeigefinger oder den Mittelfinger, wenn sie auf das Universum deutet. Diese Frage hat 2017 auch gleich die überregionale Presse beschäftigt: ist der Wink nun Ausdruck der Verachtung oder der Achtsamkeit?
Die Frage bringt uns möglicherweise in ein gleiches Dilemma, wie die abgebildete Figur! Jeder ist tagaus tagein mit unfassbar komplexen inneren und äusseren Vorgängen beschäftigt. Nicht nur die Presse steht dem Sinnbild ethisch ratlos gegenüber. Auch andere Betrachter fragen sich babylonisch (sprach-)verwirrt: was wird uns vorgespiegelt? Soll unser Bestreben Freiheit sein (hier also Frechheit aus gekränktem Stolz: „Jetzt bin ich aber mal dran“! So könnte man das ganz populär gewordene Freiheitsgefühl in der Postmoderne wohl nennen.)? Oder sollten wir besser nach weltumspannendem Zusammenhalt suchen?
Wir sagen ganz klar: beides, da sind sich Impulsgeber und Moderator einig. Gerade weil uns hier brutal der Spiegel vorgehalten wird, deshalb muss die Synthese aus „Ich“ und „Wir“ ausgelotet werden, um das Verbindende „und“ aufzusuchen. Begreifen Sie das heutige Thema also gerne als Zumutung, wenn es heißt: „Freiheit und Zusammenhalt in der Klimakrise“ (→ Viktory-Zeichen). Und schauen Sie, was das Thema mit Ihnen macht!
Mein Name ist Hans-Ullrich Brändle. Wie eben dargelegt, beschäftige ich mich als Arzt auch im Ruhestand immer gerne mit psychosomatischen Themen im Klimawandel.
Zuerst wird Christof Schilling eine Bestandsaufnahme erstellen, hinsichtlich Klimakrise und Freiheit. Anschließend blickt Matthias Kramm auf das Thema Klimakrise und ein neues Verständnis des Individuums. Dann freuen wir uns auf eine angeregte Diskussion.
Christof Schilling: Klimakrise und Freiheit - Was unser Verständnis von Freiheit mit der Klimakrise zu tun hat
Die Klimakrise ist eine Krise der menschlichen Zivilisation. Als eine solche stellt sie uns vor die Aufgabe, Grundbegriffe zu hinterfragen, die unser Welt- und Selbstverständnis prägen und unser Handeln leiten. Im Folgenden soll ein gegenwärtig dominantes Freiheitsverständnis (2.) auf seine immanente Widersprüchlichkeit und seine ökologischen Auswirkungen hin untersucht werden (3.). Vorangestellt wird eine knappe Bestimmung des Freiheitsbegriffs (1.).
1. Philosophische Grundlage: Was ist „Freiheit“?
In philosophischen Lehrbüchern unterscheidet man zwischen Willensfreiheit und Handlungsfreiheit. Bei der Willensfreiheit kann man zwei Ebenen unterscheiden:
Das unmittelbare Wünschen und Begehren von etwas (Wollen 1) und das mittel- und langfristige Wollen, das sich darauf bezieht, wie wir eigentlich leben wollen, welche Person wir eigentlich sein wollen (Wollen 2).[i] Das Wollen 2 ist mit bestimmten Wertorientierungen („starken Wertungen“) verbunden, die unser Selbstverständnis als Person prägen. Wenn wir etwas wollen, beziehen wir uns – meist vorbewusst, in wichtigen Situationen aber auch bewusst – im Lichte unserer Werte auf unsere unmittelbaren Wünsche, Bedürfnisse, Impulse. Wir nehmen wertorientiert Stellung zu diesen Wünschen – lehnen sie ab oder bejahen sie. Entscheiden wir uns dann, einem Wunsch entsprechend zu handeln, wird dieser zu dem Grund unserer Handlung. Willensfreiheit stellt sich so dar als die Fähigkeit aus Gründen handeln zu wollen.[ii]
Die Willensfreiheit ist graduell. Sie wird von zwei Seiten begrenzt: Zum einen durch den Grad der Bewusstheit unserer Impulse, Bedürfnisse, Gefühle, auf die wir uns im stellungnehmenden Wollen2 beziehen. Zum anderen durch die starken Wertungen, die unsere bejahende oder zurückweisende Stellungnahme zu den Bedürfnissen leiten. Auch diese Wertungen können mehr oder weniger bewusst sein. Zudem können diese Werte unser Selbstverständnis aus unterschiedlichen Gründen prägen: schlicht aufgrund von unhinterfragter Sozialisation, aufgrund von Indoktrination und Manipulation oder aufgrund einer eigenen, begründbaren Überzeugung.
Ein moralisch autonomer Wille kann auf dieser Grundlage bestimmt werden als ein möglichst umfassend freier Wille, der sich an diskursiv rechtfertigbaren Werten und Normen orientiert.[iii]
Zur Realisierung der Handlungsziele bedarf es der Handlungsfreiheit. Handlungsfreiheit kann man bestimmen als die Freiheit von äußeren und inneren Zwängen für die Realisierung der gewollten Ziele. Die Handlungsfreiheit wird innerlich begrenzt durch den Grad der Willensfreiheit und äußerlich durch die natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen bzw. Regeln und Gesetze.
Die individuelle, spezifische Ausprägung des Verständnisses und damit der Spielräume von Willens- und Handlungsfreiheit stehen in Wechselwirkung mit sozio-ökonomischen Strukturen. Das individuelle Freiheitsverständnis wird einerseits von diesen Strukturen geformt und andererseits stabilisiert es diese. Auf diese Weise bildet sich ein bestimmter „Gesellschafts-Charakter“ heraus.[iv] Dies bedeutet nicht, dass alle Menschen einer Gesellschaftsform das identische Freiheitsverständnis haben, sondern lediglich, dass dieses Freiheitsverständnis „zunächst und zumeist“ vorherrscht, es bei den verschiedenen Individuen aber in einem unterschiedlichen Maße ausgeprägt sein kann.
2. Das gegenwärtig dominante Verständnis von Freiheit und dessen Ursprünge
In zeitgenössischen soziologischen (Amlinger / Nachtwey[v]), politologischen (Lepenies[vi]) und psychoanalytischen (Habibi-Kohlen)[vii] Schriften findet sich die Diagnose, dass gegenwärtig ein stark individualistisches Freiheitsverständnis vorherrschend sei, das von der Ideologie des Neoliberalismus befördert werde.
„Die extreme Haltung, als Individuum im Namen der eigenen Freiheit ungestört tun und lassen zu können, was man will, sich weder einschränken zu müssen noch sein Verhalten zum Nutzen des Allgemeinwohls anzupassen, hat sich über die letzten Jahre immer stärker und in allen Lebenslagen verbreitet.“[viii]
Diese Freiheit des Einzelnen realisiert sich demnach vor allem als die Wahlfreiheit bei Konsumentscheidungen. „In der Konsumkultur wird Freiheit mit privaten Auswahlentscheidungen gleichgesetzt.“[ix] Freie Selbstbestimmung bedeutet die freie Wahl aufgrund eigener Wünsche bzw. Präferenzen als Maßstab. Niemandem soll aus moralischen Gründen eine Konsumentscheidung verwehrt werden, schon gar nicht durch staatliche Regulierung.[x] Der freie Konsum bietet in der Konsumgesellschaft die Möglichkeit, die eigene Identität zu gestalten und mittels der erworbenen Güter sichtbar zu machen. Hierbei entsteht im Bereich des individuellen Konsums ein der wirtschaftlichen Konkurrenz analoger Wettbewerb um positionelle Vorteile im sozialen Status.
Dieses Freiheitsverständnis ist mit einem bestimmten Menschenbild verknüpft, nämlich dem sogenannten homo oeconomicus bzw. dem egozentrischen Nutzenmaximierer der klassischen Ökonomie. Die Ursprünge dieses Menschenbildes finden sich bei Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert. Seine Bedeutung für die Wirtschaftstheorie hat John Stuart Mill paradigmatisch formuliert.
Die politische Ökonomie „betrachtet die Menschheit als lediglich mit dem Erwerb und Verzehren von Vermögen beschäftigt und strebt danach zu zeigen, zu welcher Handlungsweise die im Gesellschaftszustande lebenden Menschen geführt würden, wenn dieser Beweggrund (motive) […] unbedingte Gewalt über alle ihre Handlungen besäße. Alle diese Verrichtungen […], von denen viele in Wahrheit das Ergebnis einer Vielzahl von Bewegründen sind, sieht die politische Ökonomie so an, als wären sie lediglich dem Verlangen (desire) nach Vermögen entstammt […] Nicht daß je ein politischer Ökonom absurderweise angenommen hätte, daß die Menschheit wirklich so beschaffen ist, sondern dies ist die Art, in der Wissenschaft notwendig vorgehen muss.“[xi]
In der Ökonomik bekommt das Menschenbild des homo oeconomicus jedoch schon im 19. Jahrhundert bei David Ricardo (1772-1823) eine doppeldeutige Funktion („the Ricardian Vice“)[xii]. Auf der einen Seite gilt es als eine methodische Hilfsfigur, als ein Modell, das es erlauben soll, ökonomische Prozesse besser zu analysieren. Auf der anderen Seite wird aber der Anspruch erhoben, dass dieses Modell ein „realistisches Menschenbild“[xiii] darstelle, das als ein Erklärungsmodell tatsächlichen menschlichen Verhaltens dienen könne.[xiv] Anders gesagt: Eine in der Wirtschaftstheorie evtl. sinnvolle Abstraktion wird mit dem Anspruch, das tatsächliche menschliche Verhalten erfassen zu können, auf die Realität zurückprojiziert. In diesem Sinne bekommt der homo oeconomicus den Status einer Ideologie: Zu methodischen Zwecken der Wirtschaftstheorie wird ein Bild des Menschen entworfen, das unbestreitbar einen Aspekt des Menschseins erfassen muss – sonst wäre es kein Modell –, und dieses abstrakte Modell wird auf die soziale Wirklichkeit der Menschen zurückprojiziert, und zwar mit dem Anspruch, menschliches Verhalten adäquat erklären zu können. Der Blick auf den Menschen und auf die menschliche Gesellschaft wird damit verengt.
Zentrale Merkmale dieses angeblich „realistischen Menschen- und Gesellschaftsbildes“ sind[xv]:
Eigennutz: Die einzelnen Individuen orientieren sich in ihrer Lebensführung grundsätzlich an ihren je eigenen Präferenzen, sie orientieren sich an ihrem je eigenen Nutzen.
Faktische Präferenzen: Worin diese Präferenzen bestehen, kann offenbleiben: Es müssen nicht nur ökonomische, sondern es können auch soziale Präferenzen sein. Die faktischen Präferenzen sind jedoch als solche jedoch zu akzeptieren – sonst drohe die Gefahr eines Totalitarismus.[xvi]
Rationalität: Rational ist das Verhalten, das effizient der Verwirklichung dieser eigenen Präferenzen dient. Vernunft wird damit verstanden als eine strategische Zweck-Mittel-Rationalität.
Soziales Handeln: Soziales Handeln wird nach dem Modell eines Tauschvorganges betrachtet, in dem sich die Tauschpartner entsprechend ihrer je eigenen Kosten-Nutzen-Kalkulation 3. zueinander verhalten.[xvii] Kollektive Entscheidungen ergeben sich demnach indirekt aus der Ansammlung individueller, am je eigenen Kosten-Nutzen-Kalkül orientierten Entscheidungen.
3. Schwierigkeiten des Freiheitsverständnisses des egozentrischen Nutzenmaximierers
Freiheit besteht für den egozentrischen Nutzenmaximierer in einer weitgehend unbeschränkten Wahlfreiheit für die möglichst effiziente Verwirklichung der je eigenen Präferenzen. Dieses Freiheitsverständnis erweist sich aber auf individueller, auf sozialer und auf ökologischer Ebene als selbstdestruktiv: Die so verstandene Wahlfreiheit zerstört auf diesen Ebenen die Voraussetzungen, von denen sie zehrt.
3.1 Individuelle Ebene:
Die Wahlfreiheit als selbstbestimmte Wahl zwischen Alternativen im Lichte der eigenen Präferenzen hebt sich in den gegenwärtigen Konsumgesellschaften tendenziell selbst auf.[xviii] Selbstbestimmung kann in Fremdbestimmung umschlagen.
Denn in dem Ausmaß, in dem die individuelle Identität und der soziale Status mit dem Besitz bestimmter Konsumgüter verknüpft wird, werden die Konsumentscheidungen abhängig von den von Produzenten gesellschaftlich geweckten und sozial verbreiteten Wünschen. Sozialen Erfolg verspricht die Ausstattung mit Gütern, deren Besitz als Statussymbol gilt. Der Konsument, der seinen „Wert“ auf dem sozialen Markt mittels erworbener Güter steigert, wird selbst zum Konsumgut.[xix] Diese Wertsteigerung muss aber nicht äußerlich bleiben: Auch die Selbstoptimierung in verschiedenen Bereichen kann den Marktpreis des Individuums erhöhen.
Der Wettbewerb um soziale Positionen, der durch Konsum und Selbstoptimierung bestritten wird, ist tendenziell endlos. Die scheinbar selbstbestimmte Wahlfreiheit im Dienst der eigenen Präferenzen schlägt um in den Zwang, strategisch erfolgsversprechende Entscheidungen zu treffen. Erfolgsversprechend dürften aber die Entscheidungen sein, die den Präferenzen der „Nachfrageseite“ auf dem sozialen Markt entsprechen. Die Wahlfreiheit des egozentrischen Nutzenmaximierers verwandelt sich in Anpassung. Sein radikaler Individualismus wird zu einem konformistischen Schein-Individualismus.
3.2 Soziale Ebene
„Der Grundgedanke des Neoliberalismus lautet, dass das Allgemeinwohl maximal gefördert wird, wenn sich möglichst alle sozialen Transaktionen an der Marktlogik des Wettbewerbs ausrichten.“[xx]
Der – nicht nur neoliberale – Versuch, Gesellschaften als Vereinigungen nutzenmaximierender Individuen zu verstehen, verfehlt die soziale Realität. Amartya Sen, Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph, der 1998 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten hat, macht dies an einem einfachen Beispiel deutlich: „‘Wo ist die Bahnstation?‘, fragt er mich, „Dort“, sage ich und zeige auf die Post, „und würden Sie bitte diesen Brief auf ihrem Weg aufgeben?‘ ‚Ja‘, sagt er und ist entschlossen, den Briefumschlag zu öffnen, um zu sehen, ob etwas Wertvolles darin enthalten ist.“[xxi]
Reine Präferenzrationalität muss scheitern. Das Verfolgen von Präferenzen setzt im Gegenteil immer schon vorgängige Verbindlichkeiten voraus: Menschen setzen wechselseitig voraus, dass bestimmte Verhaltensregeln, Normen und Werte gelten. So setzt in Sens Beispiel die taktische Lüge voraus, dass der Belogene davon ausgeht, dass man im Allgemeinen die Wahrheit sagt und nicht beständig lügt, sobald es einem nützlich erscheint. Wenn also zu viele Menschen zu häufig rein strategisch handeln, wird keiner mehr dem anderen das Vertrauen entgegenbringen, dass er ehrlich ist oder sich an Verabredungen hält. Das strategische, ausschließlich am eigenen Nutzen orientierte Handeln zehrt tendenziell die Normen und Werte auf, durch die es ermöglicht wird.
Da über Sozialisationsprozesse aber notwendig ein gewisser Bestand an Werten und sozialen Regeln internalisiert wird und sich Gesellschaften auch bestimmte rechtliche Regeln geben, kann es für den Nutzenmaximierer in vielen Situationen vorteilhaft sein, sich an diese Regeln zu halten, um interne Sanktionen – wie ein schlechtes Gewissen aufgrund internalisierter Werte – oder externe Sanktionen zu vermeiden. Diese Einbeziehung sozialer Werte in das Nutzenkalkül bildet ein gewisses Gegengewicht gegen die Erosion der gesellschaftlichen Sittlichkeit.
Vor allem neoliberale Positionen vertreten die Ansicht, dass der Konsumbereich von der moralischen Verpflichtung auf eine Berücksichtigung von Allgemeininteressen ausgenommen werden soll: „Freiheit wird zu einer besonderen positiven Freiheit: der Freiheit, nur seine eigenen Wünsche als Maßstab zu nehmen und dabei den Blick nicht auf die Allgemeinheit richten zu müssen. […] Man ist niemandem etwas schuldig, außer vielleicht demjenigen, dem man seine Güter abkauft.“[xxii]
In dem Ausmaß, in dem sich Personen als bloße Konsumenten verstehen und das nutzenorientierte, marktförmige Handeln immer weitere Bereiche der Gesellschaft durchdringt (vgl. Habermas: Kolonialisierung der Lebenswelt[xxiii]), tragen sie zu der Zerstörung der sittlichen Grundlagen bei, die die nutzenorientierte Wahlfreiheit erst ermöglichen.
3.3 Die ökologische Ebene
Aufschlussreich ist auch die Konzeption des Naturverhältnisses des nutzenmaximierenden Individuums. Es steht der Natur „frei“ gegenüber, die ihm als „Umweltressource“ erscheint und zudem als Abfallbehälter dient. In einer Konkurrenzgesellschaft von Nutzenmaximierern führt ein derartiges Naturverhältnis notwendig zur Zerstörung des Gemeingutes „Natur“.
Das kann man mit einem von dem Biologen Garret Hardin in einem Aufsatz aus dem Jahre 1968 durchgespielten, paradigmatischen Beispiel verdeutlichen[xxiv]:
Angenommen, miteinander konkurrierende Landwirte haben gemeinsam eine bestimmte Weidefläche zur Verfügung, auf der sie ihre Rinder grasen lassen können. Im kollektiven Interesse und kollektiv vernünftig wäre es, die Weidefläche nachhaltig zu nutzen, also so, dass sie sich immer wieder regenerieren kann. Im individuellen Interesse und individuell vernünftig ist es aber, die Weidefläche möglichst intensiv zu nutzen, um sich gegenüber den Konkurrenten einen individuellen Vorteil zu verschaffen. Verzichtet man darauf, wird man von den Konkurrenten überholt werden und über kurz oder lang seinen Betrieb schließen müssen. Die kollektive, von keinem Beteiligten beabsichtigte Folge ist aber, dass die Weidefläche nach und nach degeneriert und damit der Ertrag sinkt. Langfristig führt das individuell rationale Handeln auf diese Weise in den kollektiven Ruin, es erweist sich als kollektiv irrational.
Diese Einsicht dürfte allen Beteiligten zugänglich sein. Die Landwirte werden Konferenzen abhalten und sich auf eine mehr oder weniger nachhaltige Nutzung der Weidefläche einigen. Diese Situation ist jedoch optimal für sogenannte Trittbrettfahrer, die vordergründig der Einigung zustimmen, aber faktisch weiterhin die Weide möglichst maximal nutzen. Dieses Verhalten ist in einer
Konkurrenzsituation individuell rational. Es sichert den Akteuren den größtmöglichen individuellen Ertrag. Da dieses Verhalten den anderen Akteuren nicht verborgen bleibt, werden auch diese wieder zum ursprünglichen Nutzungsverhalten zurückkehren – die Zerstörung der Weidefläche geht ihren Gang.
Analog kann man auch die Atmosphäre als ein begrenztes Gemeingut betrachten.[xxv] Um den Klimawandel unter zwei Grad zu halten, dürfen maximal 550 (- 600) ppM CO2[xxvi] in die Atmosphäre gelangen. Der derzeitige Stand sind ca. 425 ppM CO2.[xxvii]
Kollektiv rational wäre es, die Emissionen drastisch zu senken – und zwar sofort. Auf den Ebenen von Staaten, Institutionen oder Individuen erscheint es aber individuell rational zu sein, die Vorteile eines energieintensiven und damit – Stand heute – emissionsintensiven Handelns zu nutzen. Es erlaubt, nicht nur an bestehenden ökonomischen und technischen Strukturen, sondern auch an entsprechenden Lebensformen festzuhalten. Man denke an den Widerstand der fossilen Industrie gegenüber einem klimafreundlichen Umsteuern und an deren exorbitanten Profite[xxviii], aber auch an eingeschliffene Lebensformen – der „Urlaubsflug nach Thailand“ – und Konsummuster wie bspw. den ideologisch aufgeladenen Fleischkonsum.
Die unbegrenzte Wahlfreiheit der Nutzenmaximierer zerstört somit auch die ökologischen Grundlagen, auf die sie angewiesen ist. Die vorgängige Verbundenheit des Menschen mit der Natur, die leibliche Eingelassenheit des Menschen in die Natur, wird ausgeblendet. Diese ist jedoch die Voraussetzung dafür, die Natur überhaupt vergegenständlichen zu können, sie zu nutzen und ihr Ressourcen entnehmen zu können. Der leibliche Stoffwechsel des Menschen in und mit der Natur geht jeglicher präferenzorientierten Nutzung der Natur immer schon voraus, wird aber von dieser ausgezehrt. Die in konkurrenzwirtschaftlicher Dynamik stehenden Nutzenmaximierer zerstören die ökologischen Grundlagen ihrer Lebensführung.
3.4 Blockade kollektiv rationaler Antworten
Versucht man nun im Sinne kollektiver Rationalität zu Übereinkommen zu gelangen, die ein Umsteuern zur Klimaneutralität der menschlichen Zivilisation ermöglichen, so stellt sich zunächst wieder das oben skizzierte Trittbrettfahrerproblem: Individuell rational, weil den größten Vorteil versprechend, erscheint es, weiterhin selbst an emissionsintensivem Wirtschaften festzuhalten, während alle anderen Beteiligten im Sinne kollektiver Rationalität ihre Emissionen beschränken. Eine Kommunikationsstrategie in diesem Zusammenhang ist bspw. hervorzuheben, dass der eigene Anteil an den Gesamtemissionen gering sei, und zugleich den eigenen Beitrag zum Klimaschutz hochzurechnen, um final darauf zu verweisen, dass zunächst einmal andere am Zug seien.[xxix]
Um die Verbindlichkeit von Vereinbarungen zu sichern und das Trittbrettfahrerproblem zu vermeiden, bedarf es, so die klassische Antwort, einer Instanz, die die Umsetzung dieser Vereinbarungen überwacht und auch durchsetzt bzw. ihr Einhalten mit Sanktionen bewehrt.
Schon im Jahr 1992 haben 166 Staaten der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (United Nations Framework Convention on Climate Change, UNFCCC) zugestimmt, mittlerweile hat sie mit 197 Staaten universale Akzeptanz.[xxx] Es folgten verschiedene Klimagipfel auf denen Einigungen auf dem jeweils kleinsten Nenner erzielt wurden, bis zum legendären Gipfel in Paris 2015. Doch die Emissionen stiegen seit den 1990-er Jahren um fast 50 %[xxxi]: Den Vereinten Nationen fehlt offensichtlich die institutionelle Macht, die Umsetzung der Vereinbarungen sanktionsbewehrt durchsetzen zu können.
Auf staatlicher Ebene könnte ein Umsteuern mit den Instrumenten von Auflagen und Anreizen eingeleitet werden.[xxxii] Dies wird jedoch ausgebremst, wenn nicht verhindert durch ein
Staatsverständnis, das entsprechendes staatliches Handeln als „Verbotspolitik“ geißelt. Dass allein der Markt aus seinem inneren Antrieb heraus, den Umbau von Industriegesellschaften im erforderlichen Tempo zu leisten vermag, darf bezweifelt werden: Die kollektive Nutzung begrenzter Güter lässt sich auf dem Wege individuell rationalen Markthandelns nicht im Sinne kollektiver Rationalität begrenzen (vgl. die Tragik der Allmende).
3.5 … und die Ethik?
Es wird von kaum jemanden bestritten werden, dass es moralisch verwerflich ist, die Lebensgrundlagen gegenwärtiger und zukünftiger Menschen zu zerstören. Dennoch wirkt diese Verpflichtung auf dem Hintergrund des Freiheitsverständnisses individueller Nutzenmaximierer wie eine abstrakte Verpflichtung, wie ein weltfremdes Sollen, das von den Sachzwängen individueller Rationalität immer wieder ausgehebelt wird. Denn die moralische Pflicht, die Lebensgrundlagen anderer Menschen nicht zu zerstören, steht im Widerspruch zu der individuell rationalen Kosten-Nutzen-Kalkulation. Das moralische Sollen erhebt in dieser Welt der Nutzenmaximierer vergeblich seine Stimme. Es bleibt der Ausweg in die Verharmlosung des Problems, in das Heucheln oder sogar in das offensive Leugnen.[xxxiii]
Literatur:
Amlinger, Carolin; Nachtwey, Oliver: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Suhrkamp. Frankfurt am Main. 2023.
Beckert, Jens: Verkaufte Zukunft. Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht. Suhrkamp: Frankfurt a.M., 2024.
Faber, Malte; Manstetten, Reiner u.a.: Nachhaltiges Handeln in Wirtschaft und Gesellschaft. Orientierung für den Wandel. Springer: Berlin. 2023.
Frankfurt, Harry: Willensfreiheit und der Begriff der Person, in: Bieri, Peter (Hrsg.): Analytische Philosophie des Geistes. Königshausen & Neumann: Königstein/Ts. 1981. S. 287-302.
Fromm, Erich: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer Gesellschaft. DTV: Stuttgart. 51980.
Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit. DTV. München. 51995.
Gardiner, Stephen M.: Ein perfekter moralischer Sturm: Klimawandel, intergenerationelle Ethik und das Problem moralischer Korruption. In: Gehrmann, Jan; Langer, Ruben; Niederberger Andreas (Hg.): Klimawandel und Ethik. Mentis: Paderborn u.a. 2020. S. 125-146. (Erstausgabe in: Environmental Values, 15. 2006, S. 379-413.)
Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 1982.
Habibi-Kohlen Delaram: Zur zeitbedingten Abwehr der Klimakrise. Wie wir uns die Klimakrise bedeutungslos machen und wie der Zeitgeist uns dabei hilft. In: Dohm, Lea; Peter, Felix; van Bronswijk, Katharina (Hg.): Climate Action – Psychologie der Klimakrise. Handlungshemmnisse und Handlungsmöglichkeiten. Psychosozial-Verlag: Gießen. 2021. S. 45-64.
Hardin, Garrett: The Tragedy of the Commons. In: Science , Dec. 13, 1968, New Series, Vol. 162, No. 3859 (Dec. 13, 1968), pp. 1243- 1248.
Kirchgässner, Gebhard: Homo oeconomicus: Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Mohr Siebeck: Tübingen. 2008.
Lepenies, Philipp: Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geiste des Unterlassens. Suhrkamp: Frankfurt am Main. 22022.
Taylor, Charles: Was ist menschliches Handeln?, in ders.: Negative Freiheit. Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Übers. v. Hermann Kocyba. Mit einem Nachwort von Axel Honneth. Suhrkamp. Frankfurt a. M. 1992. S 9-51.
Kallhoff, Angela: Klimakooperation: Kollektives Handeln für ein öffentliches Gut. In: Kallhoff, Angela (Hrsg.): Klimagerechtigkeit und Klimaethik. De Gruyter: Berlin / Boston. 2015, S. 143-167.
Kenny, Anthony: Will, Freedom and Power. Blackwell: Oxford. 1975.
Manstetten, Reiner: Das Menschenbild der Ökonomie. Der homo oeconomicus und die Anthropologie von Adam Smith. Alber Thesen: Freiburg/München. 32004.
Mill, John Stuart: System der deductiven und inductiven Logik, in: Gesammelte Werke. Bd.3. Übersetzt von Th. Gomperz. Fues: Leipzig. 1873.
Rahmstorf, Stefan; Schellnhuber, Hans-Joachim: Der Klimawandel. Diagnose, Prognose, Therapie. 8., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. C.H. Beck: München, 2018.
Schilling, Christof: Moralische Autonomie. Anthropologische und diskurstheoretische Grundstrukturen. Schöningh. Paderborn. 1996.
Sen, Amartya: Rationale Dummköpfe. Eine Kritik der Verhaltensgrundlagen der Ökonomischen Theorie. Aus dem Englischen übersetzt von Valerie Gföhler. Mit einem Nachwort von Christian Neuhäuser. Reclam: Stuttgart.
Stein, Gregory M.: Environmental Justice and the Tragedy of the Commons. California Law Review Online, Vol. 13, p. 10, 2022.
Ulrich, Peter: Transformation der ökonomischen Vernunft. Fortschrittsperspektiven der modernen Industriegesellschaft. 3. Revidierte Auflage. Verlag Paul Haupt: Bern, Stuttgart, Wien. 1993.
Internetquellen:
Our World in Data: https://ourworldindata.org/co2-and-greenhouse-gas-emissions (16.05.2025)
Tagesschau: https://www.tagesschau.de/wetter/wetterthema/klimasensitivitaet-100.html (22.07.2024)
Matthias Kramm: Klimakrise und ein neues Verständnis des Individuums. Welche Alternativen gibt es?
Als Reaktion auf Christof Schillings inspirierende Überlegungen zum Thema „Klimakrise und Freiheit“ sollen hier ein paar kurze Gedanken zu alternativen Weisen vorgestellt werden, wie wir Freiheit neu verstehen könnten.
Das übergreifende Thema meiner Überlegungen betrifft dabei die Einbettung des Individuums – und damit der individuellen Freiheit – in Beziehungsgefüge. Als Individuen sind wir immer schon eingebunden in Beziehungsgefüge, welche uns Identität geben. Laut G.H. Mead (1968) werden wir in ein Beziehungsgefüge hinein geboren, entwickeln innerhalb dieses Beziehungsgefüges unser Selbstbewusstsein und werden im Laufe der Zeit Teil eines komplexen Systems menschlicher Interaktionen (= Gemeinschaft und Gesellschaft). In der politischen Philosophie wurden diese Einsichten u.a. vom Kommunitarismus reflektiert (z.B. MacIntyre 1987); in der Ökologie beschreibt die Tiefenökologie (z.B. Naess 2013) ein solches Beziehungsgefüge, das einen Anthropozentrismus theoretisch „de-zentriert“.
Da wären zum ersten unsere Beziehungen zu nicht-menschlichen Tieren. Je nach philosophischer Position werden Tiere mit rationalen Fähigkeiten, Leidensfähigkeit, oder Zielgerichtetheit als Mitglieder unserer moralischen Gemeinschaft gewertet, wobei die spannende Frage ist, ob die Grenze enger (ratio) oder weiter (telos) gezogen wird. In jedem Fall ist den meisten unter uns aus unserer Erfahrung einsichtig, dass wir im Alltag beständig mit nicht-menschlichen Tieren kommunizieren, mitfühlen, oder ihnen Absichten zuschreiben. Aber Inwiefern prägen uns diese Beziehungen zu nicht-menschlichen Tieren? Schlussendlich sind wir selbst menschliche Tiere, scheinen die damit verbundene narzisstische Kränkung aber gerne verdrängen zu wollen. Warum? Wie sähe eine Welt aus, in der Tiere nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch Teil unserer moralischen und politischen Gemeinschaft sind? Tierethik und Multispezies-Ethik sind hier spannende Gesprächspartner und bieten Ansätze, wie nicht-menschliche Tiere in politische Entscheidungsfindungsprozesse integriert werden könnten (vgl. Donaldson & Kymlicka 2013).
Zum zweiten wären da unsere Beziehungen zu Ökosystemen. Als Menschen und Tiere sind wir – und unsere Freiheiten - in Ökosysteme eingebettet, die wir für unser Überleben brauchen. Theoretisch ist es vorstellbar, dass Ökosysteme Teil unserer moralischen und politischen Gemeinschaft werden könnten, indem wir ihnen darin eine Stimme und Repräsentation geben. Dafür wären allerdings tiefgreifende Reformen unserer Institutionen nötig. Inzwischen gibt es erste Versuche auf politischer und ökonomischer Ebene, Ökosystemen oder der Natur eine Stimme zu geben, indem ein/e Repräsentant*in der Natur im Vorstand oder Gemeinderat sitzt.
Eine Strategie, um der Natur oder spezifischen Ökosystemen eine juristische und politische Rolle in unserer Gesellschaft zu geben, sind die Rechte der Natur. Obgleich die Rechte der Natur bereits 2008 in der ecuadorianischen Verfassung anerkannt wurden, gelangten sie erst 2022 nach Europa, als der Spanische Senat das Mar Menor, eine Salzwasserlagune an der südöstlichen Küste des Landes, zur Rechtsperson erklärte. In Deutschland erfolgten im Jahr 2024 zwei Urteile des Landesgerichts Erfurt, in denen die Rechte der Natur als „schutzverstärkend“ anerkannt wurden. Weitere Initiativen innerhalb und außerhalb Europas sind in Planung. Idealerweise stärken die Rechte der Natur die rechtliche Position von Ökosystemen und der Natur durch subjektive Eigenrechte und gewähren direkten Zugang zur Gerichtsbarkeit, auch wenn die Umsetzung und Effektivität von Fall zu Fall stark variieren kann. Eine Einführung in diese – noch junge – Bewegung bietet ein Buch, das ich im November 2023 herausgegeben habe und das zahlreiche Beiträge aus inter- und transdisziplinärer Perspektive zu diesem Thema vereinigt. Die pdf-Version des Buches ist im November 2024 im Open Access erschienen und kostenlos downloadbar: https://www.oekom.de/buch/rechte-fu-r-flu-sse-berge-und-waelder-9783987260391
Um ein kurzes Fazit zu ziehen: Wenn wir lernen, uns als Individuen mit unseren Freiheiten neu zu verstehen als eingebettet in Beziehungen zu nicht-menschlichen Tieren und Ökosystemen, so können daraus neue Ansätze erwachsen, wie wir unsere moralische und politische Gemeinschaft erweitern könnten. Theoretische Vorschläge für institutionelle Reformen sind vorhanden, deren Umsetzung dazu beitragen kann, Tierleid zu mindern, Biodiversität zu fördern, und Klimaschutz wirksam zu implementieren.
Literatur:
Donaldson, Sue; Kymlicka, Will: Zoopolis – Eine politische Theorie der Tierrechte. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp. Frankfurt am Main. 2013.
Kramm, Matthias (Herausgeber): Rechte für Flüsse, Berge und Wälder. (Mit Beiträgen von Bader, Hans Leo, Flemmer, Riccarda, García Ruales, Jenny, Gutmann, Andreas, Kramm, Matthias, Putzer, Alex, Raddatz, Frank.-M., Zenetti, Jula). Oekom. München. 2023.
MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang Rhiel. Campus. Frankfurt am Main. 1987 und 2006.
Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Mit einer Einleitung herausgegeben von Charles W. Morris. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ulf Pacher. Suhrkamp. Frankfurt am Main. 1968.
Naess, Arne: Die Zukunft in unseren Händen: Eine tiefenökologische Philosophie. Edition Trickster. Wuppertal. 2013.
Zum Abschluss habe ich Ihnen noch einmal Street-Art mitgebracht, dieses mal von einer Fahrradtour, die ich im letzten Jahr mit meiner Frau in die Nordbretagne nach Morlaix gemacht habe. Das Fresco heißt übersetzt Flaschenpost („message in a bottle“). Es ist dort von einem balinesischen Künstler (er nennt sich „Wild Drawing“) aufgebracht und im Rahmen eines nationalen Wettbewerbs der Wandmaler 2022 unter 50 Exponaten mit dem ersten Preis („le french golden street art“) gekrönt worden.
Nehmen wir an, die Figur im Glas symbolisiere Athene, die Schutzgöttin der Weisheit und Namensgeberin der griechischen Hauptstadt. Dann würde es ins Bild passen, dass zwei Philosophen heute versucht haben, ihren Geist aus der Flasche zu locken und sich der Moderator als gelernter Geburtshelfer, im sokratischen Sinne mit Hebammendiesten darin versuchen durfte, einzugreifen. Wenn Ihnen unser gemeinsames Vorhaben vielleicht nicht gelungen scheint, dann bleiben Sie, liebe Teilnehmer des Rottenburger Politischen Gesprächskreises, zuversichtlich, dass der Korken mit zunehmender Erderwärmung knallen wird und sich die Erkenntnisse dieser Dame hoffentlich noch rechtzeitig über uns ergießen können. Andernfalls heißt's nach Gerhard Raff für uns alle bloß noch: „Herr schmeiß Hirn ra!“
[i] Vgl. Frankfurt, Harry: Willensfreiheit und der Begriff der Person, in: Bieri, Peter (Hrsg.): Analytische Philosophie des Geistes. Königshausen & Neumann: Königstein/Ts. 1981. S. 287-302.
Taylor, Charles: Was ist menschliches Handeln?, in ders.: Negative Freiheit. Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Übers. v. Hermann Kocyba. Mit einem Nachwort von Axel Honneth. Suhrkamp. Frankfurt a. M. 1992. S 9-51.
[ii] Vgl. Kenny, Anthony: Will, Freedom and Power. Blackwell: Oxford. 1975. S. 20.
[iii] Vgl. Schilling, Christof: Moralische Autonomie. Anthropologische und diskurstheoretische Grundstrukturen. Schöningh. Paderborn. 1996.
[iv] Vgl. Fromm, Erich: Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer Gesellschaft. DTV: Stuttgart. 51980. S. 129.
Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit. DTV. München. 51995. S. 200-215.
[v] Amlinger, Carolin; Nachtwey, Oliver: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus. Suhrkamp. Frankfurt am Main. 2023.
[vi] Lepenies, Philipp: Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geiste des Unterlassens. Suhrkamp: Frankfurt am Main. 22022.
[vii] Habibi-Kohlen Delaram: Zur zeitbedingten Abwehr der Klimakrise. Wie wir uns die Klimakrise bedeutungslos machen und wie der Zeitgeist uns dabei hilft. In: Dohm, Lea; Peter, Felix; van Bronswijk, Katharina (Hg.): Climate Action – Psychologie der Klimakrise. Handlungshemmnisse und Handlungsmöglichkeiten. Psychosozial-Verlag: Gießen. 2021. S. 45-64.
[viii] Lepenies, 22022, S. 17.
[ix] Ebd., S. 230.
[x] Vgl. ebd., S. 258.
[xi] Mill, John Stuart: System der deductiven und inductiven Logik, in: Gesammelte Werke. Bd.3. Übersetzt von Th. Gomperz. Fues: Leipzig. 1983. S. 310. Zitiert nach: Manstetten, Reiner: Das Menschenbild der Ökonomie. Der homo oeconomicus und die Anthropologie von Adam Smith. Alber Thesen: Freiburg/München. 32004. S. 48.
[xii] Ulrich, Peter: Transformation der ökonomischen Vernunft. Fortschrittsperspektiven der modernen Industriegesellschaft. 3. Revidierte Auflage. Verlag Paul Haupt: Bern, Stuttgart, Wien. 1993. S. 197.
[xiii] Kirchgässner, Gebhard: Homo oeconomicus: Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Mohr Siebeck: Tübingen. 2008. S. 49.
Vgl. auch: Faber, Malte; Manstetten, Reiner u.a.: Nachhaltiges Handeln in Wirtschaft und Gesellschaft. Orientierung für den Wandel. Springer: Berlin. 2023, S. 49f.:
„- Optimale Befriedigung der Bedürfnisse: Das Kriterium wirtschaftlicher Entscheidung ist die optimale Erfüllung der Bedürfnisse (unter gegebenen Bedingungen, z.B. das verfügbare Einkommen).
- Nichtsättigung: Der Homo oeconomicus will stets mehr haben, zumindest von einem Gut und unabhängig davon, wieviel er bereits hat.
- Unbeschränktheit der Präferenzen: Alle Arten von Bedürfnissen und Interessen sind zugelassen. Weder Staat noch Gesellschaft, Tradition oder Religion haben Einfluss auf ökonomische Entscheidungen.
- Unabhängigkeit der Präferenzen: Der Homo oeconomicus kümmert sich ausschließlich um das eigene Wohl. Er kennt weder Neid noch Mitleid,
- Vollkommene Information: Der Homo oeconomicus kennt die eigene Bedürfnisstruktur (individuelle Präferenzordnung) sowie sein Einkommen, alle Preise für ihn relevante[r, sic] Güter sowie alle gegebenen Handlungsoptionen.
- Konsumentensouveränität: Dem Individuum wird genügend Einsicht und Urteilskraft zugetraut, um sich angemessen um ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen zu kümmern.“
[xiv] Vgl. Kirchgässner, S. 2, 50.
[xv] Vgl. ebd., Kap. 2, S. 12-65.
[xvi] Vgl. ebd., S. 45.
[xvii] Vgl. Ebd. S. 22.
[xviii] Die Darstellung lehnt sich an Amlinger / Nachtwey, 2023, a.a.O., S. 101 an, die wiederum Slavoj Žižek (Die Tücke des Subjekts. Suhrkamp: Frankfurt am Main. 2010) referieren.
[xix] Vgl. ebd., S. 235. Nach: Baumann, Zygmunt: Liquid Modernity. Cambridge. 2000, S. 81.
[xx] Ebd., S. 19.
[xxi] Sen, Amartya: Rationale Dummköpfe. Eine Kritik der Verhaltensgrundlagen der Ökonomischen Theorie. Aus dem Englischen übersetzt von Valerie Gföhler. Mit einem Nachwort von Christian Neuhäuser. Reclam: Stuttgart. S. 28.
[xxii] Lepenies, a.a.O., S. 214f.
Lepenies bezieht sich in seiner Analyse vor allem auf die dem „Neoliberalismus“ zurechenbaren Autoren William Harold Hutt, Ludwig van Mises, August v. Hayek und Milton Friedman.
[xxiii] Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Suhrkamp: Frankfurt a.M. 1982.
[xxiv] Vgl. Hardin, Garrett: The Tragedy of the Commons. In: Science , Dec. 13, 1968, New Series, Vol. 162, No. 3859 (Dec. 13, 1968), pp. 1243- 1248.
[xxv] Stein, Gregory M.: Environmental Justice and the Tragedy of the Commons. California Law Review Online, Vol. 13, p. 10, 2022.
Kallhoff, Angela: Klimakooperation: Kollektives Handeln für ein öffentliches Gut. In: Kallhoff, Angela (Hrsg.): Klimagerechtigkeit und Klimaethik. De Gruyter: Berlin / Boston. 2015, S. 143-167.
[xxvi] Rahmstorf, Stefan; Schellnhuber, Hans-Joachim: Der Klimawandel. Diagnose, Prognose, Therapie. 8., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. C.H. Beck: München, 2018. S. 96.
[xxvii] https://www.tagesschau.de/wetter/wetterthema/klimasensitivitaet-100.html (22.07.2024)
[xxviii] Vgl. Beckert, Jens: Verkaufte Zukunft. Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht. Suhrkamp: Frankfurt a.M., 2024. S. 48f.
[xxix] Vgl. Rahmstorf, Schellnhuber, a.a.O., S. 121.
[xxx] Vgl. ebd., S. 95.
[xxxi] Genauer: Von 808,89 billion t auf 1,81 trillion t: https://ourworldindata.org/co2-and-greenhouse-gas-emissions (16.05.2025)
[xxxii] Vgl. Rahmstorf, S. 104.
[xxxiii] Vgl. Gardiner, Stephen M.: Ein perfekter moralischer Sturm: Klimawandel, intergenerationelle Ethik und das Problem moralischer Korruption. In: Gehrmann, Jan; Langer, Ruben; Niederberger Andreas (Hg.): Klimawandel und Ethik. Mentis: Paderborn u.a. 2020. S. 125-146. (Erstausgabe in: Environmental Values, 15. 2006, S. 379-413.)
Schick uns Deinen Text