29.04.2024: Hyperpolitik und Gegenmobilisierung - vom Parteienpluralismus zur politischen Polarisierung?
1. Einführung (Wolfgang Hesse)
Wolfgang Hesse begrüßt die Teilnehmer und führt in das heutige Thema ein.
In den Spitzenzeiten um das Jahr 1960 arbeiteten ca. 17.000 Menschen in der Völklinger Hütte. Wenn man die Zulieferindustrie einrechnet, fanden durch die Hütte über 30.000 Menschen Arbeit. Die Stadt Völklingen hatte damals ca. 44.000 Einwohner.
Erst die weltweite Stahlkrise Mitte der siebziger Jahre läutete das Ende ein. Im Jahr 1986 wurde der letzte Hochofen ausgeblasen: Eine Ära war zu Ende gegangen – und damit die Ära der Massenkultur.
Über ein Drittel der 44.000 Einwohner hat also damals in Völklingen beim gleichen Arbeitgeber gearbeitet. Wenn man von der Einwohnerzahl Kinder und Rentner abzieht, wird schnell klar, dass der überwiegende Teil der Völklinger Erwerbspersonen in der Völklinger Hütte sein Geld verdient haben muss.
Was hat das für das Leben der Menschen in Völklingen bedeutet? Die Arbeiterschaft war zum großen Teil in der SPD und/oder in den Gewerkschaften organisiert, während die Mittelschicht die CDU wählte. Es lässt sich vermuten, dass die kulturellen Verschiedenheiten der Menschen über die Bildungs- und Wohlstandsunterschiede hinweg eher geringer waren, als wir sie heute in einer Stadt mit einer vergleichbaren Einwohnerzahl finden würden. Bei der Landtagswahl im Saarland 1960 konnten die etablierten Parteien CDU, SPD und FDP zusammen ca. 80% der Wähler für sich gewinnen.
Die Ähnlichkeit der Lebensbedingungen von vielen Menschen prägte deren Lebensweise, Einstellungen und nicht zuletzt ihre politischen Orientierungen im Sinne größerer Homogenität. Das ist das Wesen der Massenkultur – die heute verschwunden ist. Andreas Reckwitz hat das in seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ sehr eindrücklich beschrieben.
Wenn wir in unserer heutigen Veranstaltung über Hyperpolitik und Gegenmobilisierung sprechen – und uns im Felde der Soziologie und Politikwissenschaft bewegen - so fragen wir, welche Formen politischer Interessenbildung und Interessenartikulation heute vorherrschend sind und wie diese mit den modernen Lebensbedingungen der Menschen zusammen-hängen.
Anton Jäger diagnostiziert in seinem Buch Hyperpolitik, Berlin 2023, einen individuell und emotional gefärbten Politikstil, der sich weniger aus stabilen Organisationsformen, sondern eher aus gefühlsbetonten, kurzfristig hochschwappenden Empörungswellen speist. Konnten wir bei der OB-Wahl in Rottenburg eine solche Entwicklung beobachten?
Steffen Mau u.a. untersuchen in ihrem Buch Triggerpunkte, Berlin 2023, die aktuelle öffentliche Meinung in Deutschland empirisch und versuchen vor dem Hintergrund von Klassenzugehörigkeit, Bildungsstand und anderen soziostrukturellen Merkmalen eine Landkarte politischer Meinungen und Konfliktthemen zu zeichnen.
Aber weiter möchte ich dem Impuls von Winfried Thaa nicht vorgreifen. Lieber Winfried, wir sind gespannt auf Deinen Impuls!
2. Impuls (Winfried Thaa)
Winfried Thaa unterstützt seinen Impuls durch eine Präsentation. Diese kann über den folgenden Link aufgerufen werden. Im Text wird auf die Folien der Prasentation verwiesen.
1. Einleitung
Es soll heute wieder um Bücher gehen, und zwar um zwei Bücher, die seit Anfang des Jahres in Publizistik und Politik sehr breit diskutiert werden. Beide haben es sogar geschafft, im Februar in der Kabarettsendung „Die Anstalt“ thematisiert zu werden.
Dieses enorme Echo kommt nicht von ungefähr. Beide Bücher greifen - in unterschiedlicher Weise – die mittlerweile allgegenwärtige Sorge vor einer Spaltung und politischen Polarisierung der Gesellschaft auf.
Folie 1 Buchtitel
Jägers Buch befasst sich mit Entwicklung der repräsentativen Demokratie während der letzten Jahrzehnte und bezieht sich dabei vor allem auf bekannte und einflussreiche demokratietheoretische Literatur, aber auch auf einige Klassiker der Soziologie. Mau, Lux und Westheuser dagegen haben eigene umfangreiche Studien durchgeführt, mit der sie die These von einer zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft empirisch überprüfen möchten.
Um die Ergebnisse grob vorwegzunehmen: Jäger warnt vor den Gefahren einer neuen, eher emotionalen und aus mäßigenden und vermittelnden Institutionen freigesetzten Politisierung der Gesellschaften – er spricht von einer Hyperpolitisierung. Die drei Soziologen dagegen stellen in ihren Studien fest, dass bei zentralen politischen Streitthemen – sie sprechen von politischen Arenen – eigentlich nicht von einer zunehmenden Polarisierung die Rede sein kann. Allerdings sehen auch sie gegenüber den Zeiten der großen demokratischen Massenparteien wichtige Veränderungen, vor allem die Gefahr der emotionalen Mobilisierung von Massen durch populistische Politiker, ausgehend von sog. „Triggerpunkten“.
Ich werde beide Argumentationen knapp darstellen, was aber, vor allem bei der soziologischen Studie, doch seine Zeit brauchen dürfte. Ursprünglich wollte ich etwas ausführlicher eine eigene These formulieren, deutlich pessimistischer als der Tenor der beiden Bücher, das werde ich aus Zeitgründen aber nur knapp anreißen.
2. Jägers Hyperpolitik
Jägers Argumentation erhält Struktur durch die Einteilung verschiedener historischer Entwicklungsphasen der Demokratie, ein Vorgehen, das in der Politikwissenschaft der letzten Jahrzehnte sehr in Mode gekommen ist.
Wir haben uns schon ziemlich genau drei Jahren, im Mai 2021, mit Pierre Rosanvallon und seinem Buch „Gegendemokratie“ beschäftigt, auf das ich nachher nochmal kommen werde. Um 2010 war Colin Crouch mit seiner „Postdemokratie“ in aller Munde. Und wenn mich nicht alles täuscht, ist hier auch schon mal Bernard Manin und seine These der Ablösung der Parteiendemokratie durch die Publikumsdemokratie angesprochen worden.
Diesen verschiedenen Begrifflichkeiten liegt eigentlich vor allem eine Beobachtung zugrunde, die auch den Ausgangspunkt für Jäger bildet: In allen westlichen Demokratien haben die großen Massen- oder Volksparteien an Bedeutung verloren und einen Teil ihrer Integrationskraft eingebüßt. Das geschah nicht in allen Ländern genau zeitgleich und im selben Umfang. Aber: ob die britische Labour Party, die italienischen Kommunisten oder Christdemokratien, die SPD oder auch die französischen Neogaullisten: in den 70er Jahren hatten sie noch hunderttausende, teilweise sogar Millionen von Mitgliedern (SPD 1976 1Mio, Labour Party 1 Mio 1953, 2006 200000; S. 50), heute sind einige dieser Parteien ganz verschwunden, andere erheblich zusammengeschrumpft.
Jäger betont sehr stark, dass die großen Parteien der Nachkriegsjahrzehnte in Europa für umfassendere gesellschaftspolitische Orientierungen standen. Sie halfen ihren Anhängern „sich in ihrer Welt zurechtzufinden“ (S. 46). Als Konsequenz dieser von Wählern und ihren Parteien geteilten Werte oder Weltbilder entstand zwischen ihnen ein Vertrauensverhältnis. Man wählte weniger einen attraktiven oder als kompetent geltenden Politiker, man entschied sich auch nicht so sehr für Partei A oder B, weil man sich davon einen konkreten Nutzen versprach. Eher wählte man Leute, die zum eigenen sozio-kulturellen Milieu gehörten und von dem man sich deshalb auch – im Großen und Ganzen - politisch vertreten fühlen konnte.
Das war vermutlich umso stärker, je ideologischer die Parteienlandschaft geprägt war. Bsp. die kommunistischen Parteien in F oder in Italien, die noch in den 70er Jahren für eine viele Lebensbereiche umfassende Gegenkultur standen. Aber auch in D konnte sich ein kirchlich gebundener Katholik darauf verlassen, dass ein CDU Kandidat in wichtigen Politikbereichen mit ihm überein stimmte, sozusagen „einer von uns war“.
Das ändert sich in ganz Europa während der 80er Jahre. Die Politikwissenschaft ist sich weitgehend darin einig, dass dieser Niedergang der Massenparteien gesellschaftliche Ursachen hat. Stichwort heisst Individualisierung. In Deutschland war der Verkünder der Individualisierung oder auch der Auflösung der Reste der Ständegesellschaft, wie er es nannte, der Soziologe Ulrich Beck. Er feierte die Desintegration bestehender sozio-kultureller Milieus in den 80er und 90er Jahren als Befreiung und sah darin vor allem neue Möglichkeiten für die Individuen, ihr Leben nun selbst zu bestimmen. Bildungsexpansion, soziale und lokale Mobilität, biographische Brüche mit dem eigenen Herkunftsmilieu, intergenerationeller Aufstieg, auch die Infragestellung von Geschlechterrollen, alles Dinge, die, denke ich, gerade für unsere Altersgruppe ganz typisch sind, sieht Beck als Autonomiegewinn.
Folie 2: Gegensätzliche Perspektiven…
Ein anderer, US-amerikanischer Autor, auf den sich Jäger sehr stark bezieht, beschreibt die entsprechenden Prozesse dagegen als zunehmende Vereinzelung und Atomisierung, d.h. aus einer Perspektive des Verlusts von sozialen Bezügen und kultureller Orientierung.
Robert Putnam, Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community, New York 2000.
Der Titel ist Metapher für die These des Buches. Putnam sieht einen langfristigen Trend des Schwindens von Gemeinschaftssinn und sozialem Kapital in der US-amerikanischen Gesellschaft. Bis in die 80er Jahre hinein war Bowling in den USA nicht nur populär, sondern es wurde in der Regel in vereinsähnlichen Strukturen, in größeren Gruppen, oft auch unter Kollegen und an bestimmten Wochentagen gespielt. Obwohl das Spiel weiter populär blieb, änderte sich nach Putnam der soziale Kontext des Spiels. Es wurde zunehmend unter engen Freunden, in Kleingruppen oder in der Familie gespielt (um S. 40). Ähnliche Tendenzen beschreibt Putnam auch für andere Formen der Freizeitaktivität und des gesellschaftlichen Engagements. Charity (Wohlfahrt) wird weniger von nachbarschaftlichen oder kirchlichen Gruppen geleistet, in denen man sich kennt, sondern man tritt anonym einer Organisation bei und leistet seinen Monatsbeitrag. Im Ergebnis haben die Menschen viel weniger feste soziale Kontakte, weniger Vertrauen in ihre Mitmenschen und – so der Fachausdruck – weniger „soziales Kapital“. Für Putnam werden vor diesem Hintergrund in den USA Gemeinschaftssinn und Solidaritätsbereitschaft immer geringer, die Vermarktlichung verschiedener Lebensbereiche parallel dazu immer stärker.
Jäger bezieht Putnams eher pessimistische Sicht auf Individualisierungsprozesse auf Europa und da besonders auf die großen gesellschaftlichen Organisationen wie Gewerkschaften und Kirchen, in denen die Parteien ja verankert waren. Er nennt da etwas willkürlich verschiedene Zahlen, die insgesamt aber doch ein eindeutiges Bild ergeben.
Folie 3 zu Jägers Zahlen
In D etwa waren 1991 noch 12 Mio Arbeitnehmer in DGB organisiert, 2021 waren es noch 5,7 Mio (S. 40). Oder für den Bereich der Religion führt er an, dass in GB allein zwischen 2009 und 2019 die Zahl der Kirchenbesucher der Church of England um 20% zurückging. Selbst in Italien sank die Zahl der Kirchenbesucher in den letzten Jahren dramatisch (Jäger, S.40).
Diese Auflösung der parteinahen sozialen Milieus bildete nach Jäger für eine 10 bis 20 Jahre anhaltende Phase die Grundlage der sog. Postpolitik. (Das war zugleich die Zeit, als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom „Ende der Geschichte“ die Rede war.) Ideologische Orientierungen verloren ihre Bindekraft, sichtbar nicht zuletzt daran, dass die sozialdemokratischen Parteien ob unter Blair in GB oder unter Schröder in D zu Vorreitern neoliberaler Wirtschaftsreformen wurden. Es sollte nicht mehr um links oder rechts, sondern um Kompetenz gehen. Lieblingswort dieser Zeit war „alternativlos“ und eine prominente Rolle in der Politik spielten nun die Expertenkommissionen (in D. Hartz, Rürup u.a.). Angela Merkel mit ihrer unideologischen konservativen Politik gehört da natürlich auch dazu.
Jäger bezieht sich bei der Beschreibung dieser Zeit auch auf belletristische Literatur, auf Schriftsteller wie Annie Ernaux oder Hollebeque, die Gesellschaften beschreiben, in denen es vor allem darum geht, seinen Vorteil zu suchen und sich zu amüsieren. Er gesteht durchaus zu, dass diese Zeit der Clubs, der Love Parade, der hedonistischen Selbstbezogenheit auch etwas Befreiendes gehabt habe. Aber er charakterisiert diese Zeit als Totalisierung des Privaten, als Zeit des Konsumismus und einer Marginalisierung der Öffentlichkeit.
Folie 4 mit den Phasen Massenpolitik, Postpolitik, Antipolitik, Hyperpolitik
Die Phase der Postpolitik endet mit der Finanzkrise von 2008. Protestaktivitäten nehmen sprunghaft zu. Ein Bespiel bilden die Occupy Wall Street Aktionen und junge Menschen, die in Spanien und Griechenland auf die Straße gingen, aber auch die politisch rechte Tea Party Bewegung in den USA (S.83). Die Aktivisten dieser Zwischenphase wollen häufig mit „normaler Politik“ nichts zu tun haben, sie wenden sich gegen das politische Establishment und häufig gegen jede Form der Repräsentation oder gar der Partei. (Jäger bezieht sich auf De Saint Viktor, der diesen Begriff der Antipolitik benutzt, S. 83).
Die Antipolitik delegitimiert die Parteien und politischen Eliten, geht dann aber über in das, was Jäger Hyperpolitik nennt. Das entscheidende Ereignis dabei ist der Wahlerfolg Donald Trumps und der Aufstieg des Rechtspopulismus in den europ. Demokratien. Grundsätzlicher zeichnet sich für Jäger diese Phase dadurch aus, dass nun eigentlich alles politisiert werden kann – von rechts wie von links: Schreib- und Sprechweisen, Fehlverhalten Prominenter, Verbrechen, gesundheitspolitische Maßnahmen, selbst Toilettenbezeichnungen.
Einzelne Ereignisse können sogar große internationale Bewegungen auslösen – etwa der gewaltsame Tod von George Floyd und Black Lives Matter, oder die Me-too-Kampagne (Harvey Weinstein), aber auch die Bewegung gegen die Lock-Down Maßnahmen während der Corona Zeit wären ein Beispiel für die neue Politisierung.
Folie 5: Streiks und Demonstrationen weltweit
Jäger S. 76 Quellenangaben (Brookings)
Typisch: Starke Emotionalisierung, sehr hohe Mobilisierung, aber auch extreme Kurzlebigkeit und kaum stabile organisatorische Strukturen. Black Lives Matter als Beispiel – einige Wochen oder wenige Monate bestimmt diese Bewegung die Medien– faktisch ändert sich nichts. Als weiteres Beispiel nennt er die französischen Gelbwesten.
Über die jüngsten Massendemonstrationen gegen die AfD sagt er selbstverständlich noch nichts, aber sie passen gut ins Bild. Bewegungen mit hoher Massenbeteiligung, aber nahezu ohne Organisationen und institutionelle Verfestigung.
Eine wichtige Rolle spielen dabei selbstverständlich die sozialen Medien. Er formuliert: „Wer sich dort tummelt, bespielt expressive soziale Repertoires, die keinerlei langfristige Verpflichtungen erfordern. Atomisierung und Beschleunigung gehen Hand in Hand. Die Menschen sind einsamer, aber auch aufgeregter; atomisierter, aber auch vernetzter; wütender, aber auch verwirrter“. (Jäger, Blätter, S. 54).
Folie 6 Institutionalisierung und Mobilisierung
Jäger sieht in der Hyperpolitik eine „eminent marktkonforme Variante der Politik“.
Sie ist zwar inhaltlich nicht links oder recht festgelegt, kommt aber populistischen oder, wie er es auch nennt neobonapartistischen Organisationsformen entgegen. Es kann der Hyperpolitik gelingen, Emotionen zu mobilisieren und kurzfristig die öffentliche Meinung zu bestimmen. Es fehlt den entsprechenden Bewegungen aber der lange Atem und die strategische Orientierung für tiefer reichende gesellschaftliche Veränderungen. Insofern begünstigt diese neue Art der emotionalen Politisierung doch eher autoritäre Führerfiguren nach dem Vorbild Trumps, die in der Lage sind, Ressentiments strategisch zu bearbeiten.
Jäger beendet seine Analyse dann mit der angesichts seiner Gesellschaftsanalyse von ihm selbst als „naiv erscheinend“ (118) bezeichneten Aufforderung, wieder institutionalisierte Netzwerke zu schaffen und die „atomisierten Individuen wieder in intermediäre Organisationen wie Parteien, Gewerkschaften und parteinahe Kaninchenzüchtervereine zu holen“ (109).
Folie 7 Thesen
Seine zwei „Vorschläge“: Reinstitutionalisierung und neue Orte organisierter Partizipation.
Die Vorschläge nennen, zeigt eigentlich schon, dass sie als Therapie für die Diagnose Jägers kaum ausreichen dürften. Elternvertretungen und Mieteraktivitäten werden die sozialen Verankerungen, auf die Parteien jahrzehntelang zurückgreifen konnten, kaum ersetzen können.
3. Mau/Lux/Westheuser
Aber vielleicht stimmt ja die Diagnose nicht. Das scheinen zumindest auf den ersten Blick die Befunde der umfangreichen soziologischen Studie von Mau und Co. nahezulegen. Sie greifen die Polarisierungs- oder Spaltungsthese auf und versuchen sie empirisch zu widerlegen oder zumindest stark zu relativieren.
Folie 8 Spaltung und Polarisierung im Zeitungsdiskurs
Die heute die Öffentlichkeit prägenden Spaltungsdiagnosen behaupten, ähnlich wie wir es ja schon von Jäger kennen, dass die Zeit der Entpolitisierung vorbei sei. Darüber hinaus behaupten sie jedoch, dass nach der Phase der Individualisierung und der Schwächung von Klassenidentitäten heute eine neue Spaltungslinie entstanden sei. Eine Spaltung oder ein cleavage nicht nur entlang von Einstellungen oder Gesinnungen, sondern auch zwischen soziostrukturellen Großgruppen.
Folie 9: Cleavage Globalisierungsgewinner - Globalisierungsverlierer
Genannt werden dann häufig ein universalistisches, linksliberales und kosmopolitisch orientiertes Lager, das von meist akademisch gebildeten, großstädtischen und besser verdienenden Gruppen getragen wird, die als Gewinner der Modernisierung der letzten Jahrzehnte gelten, und ein kulturell eher konservatives, kommunitaristisch bzw. gemeinschaftlich und nationalstaatlich orientiertes Lager, das vor allem von Gruppen mit niederer formaler Bildung, geringerem Einkommen ländlichem Hintergrund getragen wird.Das erste Lager stützt sich vor allem auf die neue akademisch gebildete Mittelklasse, das zweite auf die „alte Mittelklasse“, kleine Selbstständige und körperlich Arbeitende.
Das genau bezweifeln die Autoren. Ihre Befunde soll zeigen, dass es für die Bundesrepublik, anders als etwa in den USA, „kaum Evidenz für eine grundlegende ideologische Polarisierung“ entlang eines solchen Cleavages gibt (S. 17).
Nach Mau/Lux und Westheuser findet sich bei den meisten politischen Themen seit den 90er Jahren kaum eine Tendenz zur Polarisierung. Der Wert in D sei international unterdurchschnittlich und seit 2000 sogar rückläufig (18).
Folie 10: Kamel oder Dromedar
Um politische Einstellungen genauer zu untersuchen, unterscheiden die Autoren dann in ihrer Studie vier sog. Konfliktarenen (Übersicht S. 49).
Folie 11: Konfliktarenen
Oben-Unten; Innen-Außen; Wir-Sie; Heute-Morgen.
Hier schon kurz problematisieren: alles sind Verteilungskonflikte
Folie 12: Datenbasis
Die Verfasser nutzen vor allem drei Quellen
- Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus), die zu bestimmten Fragen seit Jahrzehnten erhoben werden,
- Eigene Repräsentative Umfrage unter 2530 Personen, von Infas durchgeführt,
- Qualitative Erhebungen in 6 Diskussionsgruppen in Berlin und Essen (je eine Gruppe mit Angehörigen der Unterschicht, eine mit oberer Mittelschicht und eine mit gegenläufigen Wertorientierungen (S. 34).
Die Hauptergebnisse:
Folie 13: Hauptergebnisse
- Das häufig gezeichnete Bild einer gespaltenen Gesellschaft trifft nicht zu
- Konflikte sind nicht durch ein klares Gegeneinander unterschiedlicher Sozialstrukturgruppen gekennzeichnet
- Die Arenen unterscheiden sich erheblich: Bspe: trotz eines weit verbreiteten Unbehagens mit der sozialem Ungleichheit dominieren hier geteilte meritokratische Verteilungsnormen; viel stärkere Spannung herrscht in der Innen-Außen Arena, aber auch hier ist das Bild komplex. Und nicht einfach in pro-contra polarisiert.
- In allen Arenen gibt es sog. „Triggerpunkte“, das sind Detailfragen wie etwa Gendersternchen, auf die Menschen stark affektiv reagieren und die deshalb Räume für neue Formen der Politisierung und der „Affektpolitik“ öffnen.
Beispiele für die Einstellungen in den Arenen
- Verteilung Oben – Unten
Das Hauptergebnis in dieser Arena lautet, dass relativ konstante, seit 1990 leicht zunehmende Mehrheiten die wachsende soziale Ungleichheit kritisch betrachten und staatliche Umverteilung befürworten.
Folie 14 Ergebnisbeispiel 1
So stimmen in ihrer eigenen Umfrage 79% der Befragten der Aussage „Die Einkommensunterschiede sind zu groß“ voll und ganz oder eher zu. 68% befürworten, dass der Staat Einkommensunterschiede stärker verringern soll (S. 78).
Die Aussagen unterscheiden sich zwar zwischen den 8 verschiedenen Berufsklassen, die in der Studie erfasst werden. Die Unterschiede sind aber nicht stark ausgeprägt. Selbst unter Arbeitgebern und Freiberuflern sind noch 60% der Meinung, die Ungleichheit sei zu groß. Besonders interessant ist auch, dass die Ergebnisse insgesamt nicht sehr polarisiert sind (Erläuterung zu Polarisierung S. 65f.).
Der großen Zustimmung zur Kritik an sozialer Ungleichheit entspricht allerdings kein Gefühl politischer Dringlichkeit. Die Verfasser nennen hier vor allem zwei mögliche Erklärungen:
Erstens: Die Mehrheit auch unter Facharbeitern und unqualifiziert Beschäftigten, findet, sie werde gerecht bezahlt. Nur 8, bzw. 20% dieser Gruppen sieht die eigene Situation als „eher schlecht“ oder „schlecht“.
Zweitens: Besonders in unteren sozialen Schichten, am stärksten bei Produktionsarbeitern, herrschen meritokratische Einstellungen vor, die für eine Entschärfung der Ungleichheitskritik sorgen (S. 86). Der Satz „Was man erreicht, hängt von der eigenen Anstrengung ab“ wird insgesamt von einer Mehrheit befürwortet (s. Folie 14), am wenigsten interessanterweise von der Gruppe der „Kulturellen Experten“, also Lehrern, Sozialarbeitern etc. (Ev. zur Erläuterung den Widerspruch auf S. 87 vorlesen). Die Befunde lassen die Autoren von einer „demobilisierten Klassengesellschaft“ sprechen (S. 361).
Die anderen drei Arenen unterscheiden sich von der ersten dadurch, dass es sich hier um relativ neue, „unsettled conflicts“ handelt, für die bislang kaum institutionalisierte Formen des Konfliktaustrags gefunden wurden. Aber auch in diesen Arenen sehen die Autoren keine klare Spaltung oder eindeutige Polarisierung.
(ev. kritische Anmerkung zur Fassung aller Konflikte als Verteilungskonflikte. Für Anerkennungskonflikte geht das ev. noch, bei Ökologie (Heute-Morgen) und bei Zuwanderung (Innen-Außen) scheint mir das den Charakter des Konflikts nicht zu erfassen.)
Die Arena, in der es noch die stärksten Gegensätze gibt, ist die der Innen-Außen-Ungleichheiten. Hier gibt es zwar auch weitgehende Übereinstimmung darüber, dass die Aufnahme von Flüchtlingen ethisch geboten ist und Einwanderung wirtschaftlich nützlich sein kann, aber einer Steuerung bedarf. Dieser breite Konsens wird allerdings ganz unterschiedlich ausbuchstabiert. Es herrscht Dissens darüber, wie liberal bzw. restriktiv die Regulierung erfolgen sollte und welche Motive für Migration legitim sind.
Folie 15: Ergebnisbeispiel 2 Innen-Außen
(Hier auf die Folie verweisen. Asylsuchende als Beispiel. 7% für ganz unterbinden. Andererseits, 8% sind auch für unbeschränkten Zuzug von Wirtschaftsflüchtlingen. Mehrheit ist für Begrenzungen.)
Einstellungen dazu unterscheiden sich nach Alter, wobei der Unterschied nicht linear an das Alter gebunden ist, sondern nur sehr junge Menschen (16-29 Jahre) sind deutlich liberaler als der Rest (S. 134). (Unter ihnen denken nur 20% dass es heute zu viele Migranten in D gibt, In der mittleren Altersgruppe sind es schon doppelt so viele. Männer-Frauen Unterschiede sind kaum vorhanden, was die Autoren mit Ressentiments gegenüber zugewanderten Männern aus islamischen Ländern erklären)
Auffallend sind die Unterschiede zwischen sozialen Gruppen. „Von den unteren Sprossen der sozialen Leiter blickt man skeptischer auf Migration als aus der gesellschaftlichen Beletage“.
Dazu gleich mehr.
Vorher noch kurz zu den Ergebnissen in der Arena Heute –Morgen.
Hier ist interessant, dass die Sorge über den Klimawandel allgemein hohe Zustimmung findet, gleichzeitig aber auch Bedenken gegen weitere Maßnahmen des Klimaschutzes von erheblichen Minderheiten unterstützt werden.
Folie 16 Einstellung zu Heute-Morgen-Ungleichheiten
Typisch die Antworten auf Erstmal sollten andere Länder nachziehen und Klimaschutz droht Wohlstand zu gefährden (S. 214).
Also gerade hier ist das Muster besonders deutlich: breiter Konsens im Allgemeinen, Dissens, wenns konkret wird.
Der soziale Raum der Ungleichheitskonflikte
Das Interesse der Studie gilt ja der Frage nach der politischen Polarisierung oder Spaltung der Gesellschaft. Wenn es die gäbe, müssten Verbindungen zwischen den Positionen in den einzelnen Arenen bestehen, oder anders gesagt, bestimmte soziale Gruppen für Umverteilung, mehr Migration, Ökologie und Minderheitenrechte, andere Gruppen klar dagegen sein. Nur dann ließe sich von einer, wie sie es formulieren, „dicken Polarisierung“ sprechen.
Dazu suchen die Verfasser nach berufsklassenbezogenen Entsprechungen zwischen verschiedenen Positionen in den vier Arenen und sie untersuchen genauer wie sich Geschlecht, akademische Bildung, Migrationshintergrund und Stadt-Land-Wohnort auswirken. (Berufsklassen nach Oesch, S. 67)
Zu den Berufsklassen kommt raus, dass es zwar klassenspezifische Unterschiede gibt, aber keine Polarisierung entlang von Klassen oder Berufsgruppen.
Folie 17 Der soziale Raum
Die Berufsklassen vorlesen.
Antworten für die jeweiligen Arenen zusammengefasst und auf einer Skala von progressiv-konservativ eingeordnet mit Werten von +2 bis -2.
Auffallend: keine der Gruppen ist überwiegend konservativ, die Unterschiede sind überschaubar, am progressivsten sind durchweg die Kulturellen Experten, nur bei Innen-Außen werden sie von Managern und technischen Experten übertroffen (ökon. Motive zu vermuten).
Folie 18 Verteilung der gesellschaftspolitischen Positionen nach Klasse
Die Bäuche zeigen. Im Ergebnis klassenspezifisch, aber keine Polarisierung. Die Unterschiede innerhalb der Berufsklassen sind größer als die zwischen ihnen. Unterschiede gibt es ebenfalls zwischen ihrer Positionierung in den vier Arenen. Auffallendste Ausnahme: In der Innen-Außen und in der Heute-Morgen-Arena, also zwischen Migrationsfragen und Ökologie ähneln sich die klassenspezifischen Einstellungen am stärksten (S. 291).
Triggerpunkte
Jetzt reicht es mit den quantitativen Ergebnissen. Der Titel des Buches lautet ja „Triggerpunkte“, und diese Triggerpunkte wurden vor allem in den qualitativen Interviews ermittelt. (Zeitungsüberschriften, Teilnehmer suchen sich die aus, die sie empören. Darüber wird dann diskutiert.)
Folie 19 Triggerpunkte
Es geht um Themen, mit denen Menschen emotional gepackt werden können.
Die Definition lautet: „jene Orte innerhalb der Tiefenstruktur von moralischen Erwartungen und sozialen Dispositionen, auf deren Berührung Menschen besonders heftig und emotional reagieren“ (S. 246), und die für eine allgemeinere politische Konfliktlinie stehen können.
Die Autoren unterscheiden vier verschiedene Formen von Triggerpunkten, die nicht an einzelne Arenen gebunden sind: Ungleichbehandlung, Normalitätsverstöße, Entgrenzungsbefürchtungen, Verhaltenszumutungen. Die allgemeine Formel lautet: „Das geht zu weit.“
Folie 20 Beispiele für Triggerpunkte
- Ungleichbehandlungen: Empörung über Boni für unfähige Manager, Diskriminierung von Minderheiten, aber auch Anspruchsabwehr im Namen der Gleichheit.
- Normalitätsverstöße: führen zu „moralischer Panik“, die das Fehlverhalten zur Verkörperung des Bösen stilisiert, etwa SUV-Fahrer, verschwenderische Superreiche, Scharia arbeitsunwillige Arbeitslose..
- Entgrenzungsbefürchtungen: nach dem Motto „Wo kommen wir da hin?“ Quoten, separate Schwimmzeiten für Transmenschen, unbegrenzte Zuwanderung u.ä.m.
- Verhaltenszumutungen: Veggi-Day, Gendersternchen,Tempolimit…
Triggerpunkte verletzen also grundlegende, für selbstverständlich erachtete Normen und lösen Ängste aus, auf die dann emotional, oft aggressiv reagiert wird.
Besonders interessant scheinen mir die Triggerpunkte zu Verhaltenszumutungen. Die Autoren können m.E. überzeugend zeigen, dass es bei politisch korrekter Sprache und ähnlichen Normen gerade nicht um harte Regeln oder Gesetze geht, sondern um informelle Sanktionierungen und gefühlte Beschämungen, gegen die sich die Getriggerten dann zur Wehr setzen, oder auf die sie aggressiv reagieren. „Ich lass mir doch nicht vorschreiben, wie ich reden soll“, was ich essen soll etc. Gerade informelle Regelungen werden als Eingriff selbstermächtigter Autoritäten verstanden, die immer neue Vorgaben und Ansprüche formulieren. Selbst dagegen erfährt man sich als ohnmächtig.
Übrigens: die gängigen Vorurteile bei diesen Einstellungen zu Migration, Minderheiten und Ökologie bestätigen sich nicht. Männer über 60 („alte weiße Männer“) unterscheiden sich kaum vom Bevölkerungsdurchschnitt. Klasse und Bildung machen eher den Unterschied (S. 265, 298f.). Vor allem bei Migrationsthemen ist es nicht Alter und Geschlecht, sondern der Bildungsabschluss, der eine entscheidende Rolle spielt. Befragte mit Hauptschulabschluss sind sehr viel migrationsskeptischer als solche mit Hochschulabschluss.
Beim Klima ist die Gruppe der 60-69 jährigen die progressivste, dicht gefolgt von der jüngsten Gruppe (299).
Ich kann jetzt aber nicht auf die genauere Verortung verschiedener sozialer Gruppen in diesen vier Konfliktarenen eingehen, sondern will zum Schluss noch mal auf Parteien und Wahlen zurückkommen. Nur kurz: die größten Unterschiede in den drei „unsettled conflicts“ gibt es zwischen Kulturellen Experten und Produktionsarbeitern.
Affektpolitik
Die Verfasser gehen zunächst in einem extra Kapitel auf den Zusammenhang zwischen Emotionalisierung politischer Einstellungen und Sozialstruktur ein. Sie stellen, was zu ihrer Grundthese passt, fest, dass in Deutschland politische Zugehörigkeiten bzw. Parteipräferenzen und soziale Gruppenzugehörigkeit weniger eng verbunden sind als in anderen westlichen Ländern.
Das Ausmaß von Wut über Politik korrelliert jedoch eng mit der Position in gesellschaftlichen Hierarchien. Je geringer das Einkommen, um so häufiger sind die Menschen wütend über Politik.
Die Frage, ob aktuelle politische Themen die Befragten oft wütend machen, wird wie folgt beantwortet:
Wütende nach Einkommen S. 342 (ohne Folie)
Das interpretieren die Autoren vor allem als Abwehr gegen von außen aufgezwungene Veränderungen, als Reaktion auf das Gefühl „nicht mehr mithalten zu können“.
Sie gehen dann auch noch ein auf die Medienlogik, die dieses Gefühl der Überforderung und die Empörung über immer neue Zumutungen bedient und fördert. Die sozialen Medien leben geradezu davon, negative Emotionalisierung anzuheizen. So beziehen sie sich etwa auf Studien, die zeigen, dass Posts, die Wut auslösen, am stärksten geteilt werden.
Interessant finde ich, dass sie dann ähnlich argumentieren wie Jäger und ausführlich darauf eingehen, dass gerade die Lockerung von Parteibindungen Tür und Tor für eine stimmungsbetriebene Affektpolitik öffnet (352). Mehr noch: Parteien werden durch die zunehmende Ungebundenheit der Wählerschaft geradezu gezwungen, immer stärker auf kurzfristige Stimmungen zu reagieren bzw. bestimmte Affekte selbst zu erzeugen.
Folie 21 : Affektpolitik und Polarisierungsunternehmer
„Als Affektpolitik ließe sich ein Politikmodus beschreiben, der versucht, den Gefühlshaushalt von Wählerschaften aktiv zu regulieren, etwa über emotionalisierte Botschaften, Personalisierung und die Mobilisierung politischer Leidenschaften“ (373).
„Als Polarisierungsunternehmer bezeichnen wir politische Akteure, deren Profilierung primär über die Erzeugung und Kapitalisierung polarisierter Auseinandersetzungen erfolgt“ (375).
„Trigger sind die Verkaufsschlager der Polarisierungsunternehmer“ (377).
Eine solche Affektpolitik funktioniert am besten in den drei neuen Arenen, und zwar weil diese Konflikte viel weniger institutionalisiert sind als der verteilungspolitische Klassenkonflikt. Hier kann man viel besser und ohne durch etablierte Organisationen und verrechtlichte Verfahren behindert zu werden, Emotionen mobilisieren.
(Interessant: Die Außenpole im politischen Raum der neueren, noch nicht etablierten politischen Konflikträume bilden jeweils die Wähler von AfD und Grünen. Hier besteht also durchaus ein Ansatz zur Polarisierung. Anders als soziale Gruppen unterscheiden sich die Wähler sehr stark in ihren Positionen. Vgl. Abb. 10.4, S. 370)
Folgen wir den drei Autoren, dann haben sich heute die Bedingungen für radikale gesellschaftliche Randgruppen insgesamt erheblich verbessert. Früher waren diese in etablierten Interessenorganisationen integriert und damit, wie sie schreiben „tendenziell auf leise gestellt“. Heute dagegen beschallten sie selbständig von den Rändern aus die Gesellschaft und können damit über die Politisierung von Themen entscheiden (378).
Das vermittle den – ihren Ergebnissen zufolge allerdings falschen – Eindruck, die Gesellschaft zerfalle in zwei sich feindlich gegenüberstehende Lager (false polarization).
Insgesamt sei – das haben wir ja schon mehrfach gehört - die Gesellschaft selbst bei den umstritteneren Themen keineswegs polarisiert, sondern weise breite inhaltliche Übereinstimmungen auf und sei, trotz klassenspezifischer Unterschiede auch nicht in klare soziale Gruppen gespalten. Die Mehrheit vertrete „middle oft he road“-Positionen, man streite sich vor allem „um konkrete Maßnahmen, die sich aus geteilten Zielen ergeben“ (382).
Folie 22 Gründe der geringeren Polarisierung in D
Als Gründe für die nicht polarisierte Grundstruktur nennen sie (383):
- Eine Geschichtserzählung, die die Gegenwartsgesellschaft als Gegenentwurf zu Weimar und zum nationalsozialistischen Extremismus beschreibt
- Eine mittelstandsdominierte Sozialstruktur
- Das politische System mit Föderalismus, Verhältniswahlrecht und Koalitionszwang
- Die starke Stellung von öffentlichem Rundfunk und Qualitätsmedien
Der durchaus vorhandenen Gefahr einer zunehmenden Dominanz des politischen Feldes durch radikale Minderheiten, insbesondere in den drei neuen Konfliktarenen, wollen sie von allem mit Verrechtlichungen und Institutionalisierungen entgegentreten. Moralisch plausiblen Institutionen komme eine Schlüsselfunktion bei der Befriedung von Konflikten zu (409). Die Ähnlichkeit zu Jäger ist auffallend. Sie führen das allerdings noch etwas genauer für die verschiedenen Konfliktarenen aus. Beispielhaft sind für sie dabei die Institutionalisierungen und rechtlichen Regelungen des Oben-Unten-Konflikts durch Tarifpolitik und Sozialpolitik. Weniger als Jäger setzen sie auf mehr Partizipation und neue Beteilgungsformen.
Folie 23 Mögliche Befriedungsformeln
Vorlesen, S. 403
Folie 24: Fazit und Kommentar 1
Die beiden Bücher widersprechen sich also auf den zweiten Blick weniger als es zunächst schien. Bis zu einem gewissen Grad ergänzen sie sich: Jägers Buch ist ein sozialwissenschaftlich gut informierter politikwissenschaftlicher Essay, Mau und Co bieten eine breit angelegte, quantitativ und qualitativ vorgehende soziologische Studie, mit klugen politikwissenschaftlichen Überlegungen.
Einig sind sie sich darin, dass die Zeit der politischen Integration durch breit verankerte gesellschaftliche Organisationen und durch mit diesen verbundenen Massenparteien vorbei ist. Beide Bücher sehen in dieser Lösung der Parteipolitik von gesellschaftlichen Organisationen und Institutionen zugleich die mögliche Voraussetzung für emotionale Mobilisierungen und die Versuche politischer Akteure, durch die Konstruktion von Freund-Feind Unterscheidungen Zustimmung zu gewinnen.
Mau/Lux und Westheuser glauben allerdings zeigen zu können, dass trotz der Schwächung der politischen Parteien der Mitte es nach wie vor in allen wichtigen Konfliktfeldern breite inhaltliche Übereinstimmungen in der Bevölkerung gibt und insbesondere keine sozialstrukturell verankerte, also an gesellschaftliche Großgruppen gebundene Polarisierung erkennbar ist.
Auch ihre Lösungsvorschläge ähneln sich, wie gerade ausgeführt.
Folie 25 Fazit und Kommentar 2:
Beide Bücher, insbesondere aber Mau/Lux/Westheuser scheinen mir die Eigenlogik politischer Repräsentation und die Dynamik emotionalisierter Gegenmobilisierungen zu unterschätzen. Es bedarf weder gemeinsamer sozialer Lagen noch tieferer weltanschaulicher Übereinstimmungen, um verschiedene Gruppen gegen einen gemeinsamen Feind politisch integrieren zu können. Populisten von links wie rechts haben das verstanden und längst zu einer bewußten Strategie gemacht. Sie versuchen bewußt, allzu genaue, eigene politische Festlegungen zu vermeiden und stattdessen die verschiedensten Interessen in der emotionalen Mobilisierung gegen einen gemeinsamen Feind zusammenzuführen (Ch. Mouffe). Pierre Rosanvallons Buch „Gegendemokratie“ das diese Tendenz ausführlich beschreibt, haben wir hier schon vor drei Jahren diskutiert,.
Man braucht aber nur einen Blick auf aktuelle politische Ereignisse zu werfen, um zu sehen, dass die emotionalisierte Gegenmobilisierung für gesellschaftliche Bewegungen, aber auch für etablierte Parteien eine immer größere Rolle spielt. Das gilt für die Bundesebene wie für die Lokalpolitik. Es scheint sich auszuzahlen, „den Teufel an die Wand zu malen“ und kurzfristig Stimmung zu machen.
Ob das dazu führt, einen demokratischen politischen Pluralismus durch die Polarisierung des politischen Raumes zwischen Freund und Feind zu ersetzen, wird sich vermutlich nicht an den Rändern des politischen Spektrums entscheiden. (Da ist das normal). Es wird sich eher daran entscheiden, ob es für die Akteure der politischen Mitte attraktiv scheint, Affektpolitik zu betreiben und Polarisierungen voranzutreiben oder nicht. Das wiederum hängt natürlich davon ab, ob die Wähler das honorieren, oder ob sie Ansätze dazu abstrafen.
3. Beiträge der Teilnehmer (Karl Schneiderhan)
Wolfgang Hesse bezieht die Thesen von Jäger und Mau auf aktuelle Entwicklungen und stellt u. a. die Frage, inwieweit die Teilnehmer in ihrem Umfeld, z. B. in Rottenburg, Anzeichen wahrnehmen, die die Thesen und Befunde von Jäger bzw. Mau stützen. Dazu gibt es folgende Diskussionsbeiträge:
- Ein Teilnehmer sieht im Kontext der Rottenburger OB-Wahl diese Thesen durchaus bestätigt. Im Wahlkampf seien sog. Triggerpunkte wirksam gewesen, z. B. mit den Themen Neugestaltung des Schänzle und dem Thema Schlachthof. Dagegen spielten hohe Investitionen der vergangenen Jahre wie in Kitas und Schulen keine Rolle. Es gab wenig Auseinandersetzung über Sachthemen.
- In einem Interview mit dem Schwäbischen Tagblatt zieht OB Neher eine gute Bilanz des Geleisteten, wie Kindertagesstätten, Schulen, vhs/Musikschule, Feuerwehr sowie Unterstützung von Vereinen und Initiativen. Warum gibt es dennoch viel Unzufriedenheit und Unmut über die Kommunalpolitik? Handelt es sich dabei nur um eine übersteigerte Form von Unzufriedenheit oder ist diese Unzufriedenheit nicht auch Zeichen lebendiger Demokratie?
- Ein Teilnehmer sieht in der Unzufriedenheit eher eine emotional aufgeladene Dagegen-Kultur. Die Kritik sei zu wenig lösungsorientiert. So gab es zwei Bürgerentscheide, bisher sei aber z. B. zum Schlachthof von den Befürwortern wenig Positives entwickelt worden.
- Thaa bestätigt, dass ein großer Teil der Bürgerschaft kaum mehr positive Vorstellungen entwickelt. Ein Grund liegt darin, dass sich viele ohnmächtig fühlen und deshalb eine Wut über politische Akteure entwickeln. Es entsteht das Gefühl, den Lauf der Dinge nicht mehr beeinflussen zu können. Allerdings gibt es laut der Studie von Mau u.a. bei Mitgliedern der Grünen am wenigsten Wut, am meisten bei AfD-Anhängern bzw. Sympathisanten. Möglicherweise liegt der Grund darin, dass Grüne aufgrund ihres gesellschaftlichen Status mehr Möglichkeit der Mitgestaltung sehen.
- Ein Mitglied der Linken bestätigt, dass man sich als Linke-Wähler bzw. Mitglied ohnmächtig fühlt, soziale Ungleichheit verändern zu können bzw. sei es mühsam, sich aus der unteren Schicht zu emanzipieren. Menschen mit höherer Bildung haben mehr Gestaltungsmöglichkeiten, Teile der Unterschichten weniger oder tun sich schwerer, mit komplexen Erscheinungen umzugehen. Wenn ich in einer Umwelt lebe, die ich nicht mehr verstehe, macht dies ohnmächtig und wütend.
- Bei der Analyse des OB-Wahlergebnisses ist die geringe Wahlbeteiligung zu berücksichtigen, die ein Ergebnis maßgeblich beeinflusst und in der sich auch mangelndes Interesse an Politik ausdrückt. Leider ist diese bei Wahlen auf kommunaler Ebene (in nicht wenigen Kommunen bereits unter 30%) weit geringer als bei Wahlen auf Landes- und Bundesebene. Warum die Wahlbeteiligung auf kommunaler Ebene niedriger ist als bei Wahlen auf Landes- und Bundesebene, ist eigentlich schwer zu verstehen, zumal man auf kommunaler Ebene weit mehr Einflussmöglichkeiten hat. Auffallend ist, dass auf Bundesebene seit den letzten zwei Wahlen die Wahlbeteiligung wieder steigt, u. a. bedingt durch die AFD, die Wähler mobilisieren kann.
- Eine Teilnehmerin plädiert dafür, Bürgerentscheide nicht einfach als Haltung des Dagegenseins zu deuten. Immerhin ging es beim Bürgerentscheid zum Gewerbegebiet um die Problematik der Flächenversiegelung bzw. um den Verlust landwirtschaftlich genutzter Flächen. Zudem sollten die Zeitungen bei ihren Berichten ihre Überschriften überdenken, die oft bereits emotional geführte Auseinandersetzung verstärken.
- Ohnmachtsgefühle entstehen auch aufgrund mangelnder Sprachkenntnis, z. B. der englischen Sprache. Im Kontext der Digitalisierung ist die englische Sprache vorherrschend, was für Teile der Bevölkerung die Kommunikation erschwert.
- Ein Teilnehmer verweist auf politische Fehlentwicklungen Anfang der 90er Jahre, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die kapitalistische Globalisierung beherrscht die Weltmärkte, was dazu führte, u. a. verstärkt durch die Finanzkrise, dass Demokratien weltweit unter Druck geraten sind (vgl. Studie der Bertelsmann-Stiftung).
- Die These von Jäger, was den Akzeptanzverlust etablierter Parteien betrifft, wird durch die OB-Wahl bestätigt. Der bisherige Stelleninhaber wurde von den drei etablierten Parteien CDU, SPD und Grüne unterstützt, dennoch reichte es beim 1. Wahlgang nicht für die absolute Mehrheit. Der Grund der Unzufriedenheit liegt weniger auf der sachlichen Ebene, sondern mehr auf der Ebene der Kommunikation und des Vertrauens. Verlässlichere Analysen sind aber erst nach der Kommunalwahl im Juni möglich. Dann wird sich zeigen, ob sich der Trend verfestigt.
- Bürgerentscheide sind im Grundsatz ein Ausdruck lebendiger Demokratie. Von daher stellt sich die Frage, warum trotz Bürgerbeteiligung so viel Unzufriedenheit zurückbleibt. Vermutlich hat dies mit Repräsentation zu tun. Bürger fühlen sich in ihren Anliegen bei gewählten Mandatsträgern zu wenig repräsentiert. Dies wird auch dadurch begünstigt, dass sich ein großer Teil inzwischen parteipolitisch heimatlos fühlt.
- Bei jungen Menschen ist die Sorge um Migrationspolitik größer. Neueste Umfragen zeigen auch eine zunehmende Sympathie für die AfD.
- Es stellt sich auch die Frage nach verlässlichen Informationsquellen. Insbesondere in Ostdeutschland ist ein Rückgang der Lokalpresse zu verzeichnen. Die Frage ist, wie lassen sich Strukturen verändern, dass wieder mehr plurale Meinungsbildung im Medienbereich entsteht?
- Die Komplexität der Herausforderungen überfordert viele Bürger und im Kontext der Individualisierung sucht jeder seine Antwort. Wichtig wäre, Bürger zu mobilisieren, um Mehrheiten zu finden. Leider sei es heute oft nur möglich, durch Emotionalisierung der politischen Auseinandersetzung Menschen zu erreichen.
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