Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

27.05.2024: Vereintes Europa und starke EU im Kontext internationaler Krisen - Welche Chancen liegen darin für die Zukunft Deutschlands?

1. Begrüßung und Einführung (Karl Schneiderhan)

In den vergangenen Tagen wurde mit zahlreichen Veranstaltungen an 75 Jahre Grundgesetz erinnert, mit einem Staatsakt und mit Demokratiefesten in zahlreichen Städten unseres Landes. Es mag heute überraschen, bereits die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben, von Weitsicht geleitet, in der Präambel die europäische Idee aufgenommen: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das deutsche Volk … dieses Grundgesetz gegeben.“

Erinnert sei auch an die historische Erklärung des französischen Außenministers Robert Schumann, er gilt als Vater Europas, der bereits im Jahre 1950, nur wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, die Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) vorschlug. Er sah darin den ersten Grundstein einer europäischen Föderation, die zur Bewahrung des Friedens unerlässlich sei. Diese hat sich in späteren Jahren zur Europäischen Union mit nun 27 Mitgliedstaaten weiterentwickelt.

Die Erinnerungen an diese Anfänge der europäischen Idee machen Mut, sich heutigen Herausforderungen zu stellen und die Identität Europas weiter zu stärken, wie dies in der Symbolik auf der Europaflagge, seit 1985 offizielle Flagge der EU, zum Ausdruck kommt: Ein Kreis mit 12 Sternen auf blauem Grund. Diese 12 auf blauem Grund und im Kreis angeordneten Sterne symbolisieren Vollkommenheit und Vollständigkeit, also Werte wie Einheit, Solidarität und Frieden zwischen den Völkern Europas.

Wie steht es nun heute um die Identität Europas? Wenn Europa Anfang Juni ein neues Europäisches Parlament wählt, dann geschieht dies in Zeiten großer politischer Herausforderungen, nicht zuletzt im Kontext internationaler Konflikte. Viele blicken mit Sorge auf den Zustand der Demokratien in einzelnen Mitgliedstaaten. Vor allem Themen wie Populismus, Extremismus, Migration, Sicherheit und Verteidigung sowie Standortfragen bei Energie oder Arbeitsmarkt bewegen die Bürger in der EU.

Zudem ist das Vertrauen vieler Europäer in die Gestaltungskraft europäischer Politik in den vergangenen Jahren geschwunden. Immerhin verbinden immer noch, wie die jüngste Eurobarometer-Umfrage (Herbst 2023) zeigt, viele Europäer mit der EU am häufigsten Werte wie Frieden, Demokratie und Menschenrechte. Im heutigen Gesprächskreis suchen wir Antworten, wie ein vereintes Europa und eine starke EU die Herausforderungen meistern, daraus gestärkt hervorgehen kann und welche Chancen darin für Deutschland liegen.

Als Impulsgeber darf ich heute Herrn Norbert Lins herzlich begrüßen. Wir freuen uns, dass Sie als kompetenter Gesprächspartner heute bei uns sind. Herr Lins ist seit 10 Jahren für die Europäische Volkspartei (EVP) Mitglied des Europäischen Parlaments und seit 2019 Vorsitzender des Ausschusses für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung (AGRI). Zudem ist er ein stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI).

Aufgewachsen ist Norbert Lins unweit von Ravensburg, in Danketsweiler auf dem Bauernhof seiner Familie. Heute wohnt er mit seiner Familie in Pfullendorf. Wirksame, umsetzbare und verhältnismäßige Regeln für die Menschen in ganz Europa zu schaffen, ist eines seiner Kernanliegen. Deshalb sind ihm Begegnungen mit Menschen aus der Region, die er im EU-Parlament vertritt, wichtig, sie geben ihm Antrieb und Motivation für sein politisches Wirken. Da kann ich nur sagen: Sie sind heute hier im politischen Gesprächskreis am richtigen Ort. Wir sind gespannt auf Ihre Einblicke und Einschätzungen zu Europa und zur EU.

 

2. Impuls (Norbert Lins, MdEP)

Welche Herausforderungen hatte die EU nach dem Amtsantritt von Frau von der Leyen zu meistern?

  • Ein halbes Jahr nach der Wahl von Ursula von der Leyen zur Präsidentin der Europäischen Kommission hatten wir die Corona-Krise. In der EU gab es geschlossene Grenzen, wir mussten eine Menge Regeln beachten, hatten die Versorgung mit Nahrungsmitteln sicherzustellen und z.B. die Passage der LKW über die geschlossenen Grenzen zu ermöglichen.
  • Ukrainekrieg: Der Ukrainekrieg war nach der Invasion der Krim 2014 und den gescheiterten Gesprächen mit Putin fast absehbar. Putin hat sich aber verrechnet, weil die EU in der Zusammenarbeit mit den USA gut und geschlossen reagiert hat. Putins Plan war es, dass die Ukraine incl. Kiew innerhalb von acht bis zehn Tagen fällt und er eine Marionettenregierung einsetzen kann. Der Zusammenhalt in der EU hat sich durch die Invasion der Russen in der Ukraine eher verbessert.

 Was sind die Herausforderungen für die EU in den nächsten Jahren?

  • Wir müssen den Bedrohungen der Demokratie begegnen, die Menschen wollen in Freiheit leben. Aktuell leben nur 45% der Weltbevölkerung in einer Demokratie.
  • Wir müssen Freiheit und Frieden erhalten und unsere Zusammenarbeit verbessern. In der EU leben ca. 450 Mio. Menschen, das sind ca. 5,6 bis 5,7% der Weltbevölkerung, in Deutschland leben nur 1,1% der Weltbevölkerung.
  • Wir als Europa sind nicht mehr der Nabel der Welt. Das Machtgefüge in der Welt verschiebt sich deutlich; China und Russland entwickeln sich zu Systemrivalen, die von repressiven und autoritären Systemen geführt werden. Die deutsche Wirtschaft z.B. ist enger an China gebunden als die französische, daher hat für Deutschland das Erheben von Schutzzöllen auf chinesische Importe eine größere Bedeutung als für Frankreich.
  • Das Thema Sicherheit wird an Bedeutung gewinnen. Dabei geht es um die individuelle Sicherheit, um Migration und um die Verbesserung der militärischen Wehrhaftigkeit. So gibt es den Vorschlag in der EU einen Verteidigungskommissar einzuführen. Da die Schaffung einer europäischen Armee unrealistisch ist, wäre dessen Aufgabe vor allem die gemeinsame Beschaffung von Rüstungsgütern.
  • Wirtschaftlich geht es um den Erhalt des Wohlstands der Menschen, der auch soziale Sicherheit schafft. Aktuell geht unser Wirtschaftswachstum zurück, während z.B. Griechenland über ein Wirtschaftswachstum von 3,5- 3,7% verfügt. Im Raum steht die Frage, wie unsere Wirtschaft gestaltet werden soll; eher nach planwirtschaftlichen Ansätzen oder nach den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft. Hier gibt es deutliche Unterschiede zu den rot-grünen EU-Parteien. Bei der Frage nach Verbrenner- oder Elektroantrieb von Autos sollten wir die Bürger entscheiden lassen.

 

3. Fragen, Diskussionsbeiträge der Teilnehmer und die Antworten von Herrn Lins

Frage (F): Was bewegt sich in der Landwirtschaft?

Norbert Lins (NL): Es gab Korrekturen durch die Kommission im Bereich Pflanzenschutz und im Umgang mit den Wölfen. Veränderungen in der Landwirtschaft müssen im Dialog mit den Bauern erfolgen, nicht von oben herab gegen sie. Die 4% Stilllegungspflicht landwirtschaftlicher Flächen wurde gestrichen, es gab Veränderungen beim Erosionsschutz und dem Fruchtwechsel. Es gab aber keine Absenkung von Umweltstandards. Undemokratisch war dagegen der frühere Vorschlag von Frans Timmermanns nach einer 10%igen Stilllegungspflicht.

F: In Spanien geht das Wasser aus, wird dieses Thema in der EU diskutiert?

F: Wie verhält es sich mit umweltschädlichen Subventionen, es sollten nur umweltfreundliche Maßnahmen subventioniert werden.

NL: Ich spreche bei Subventionen eher von Förderung, so z.B. beim Schutz von Artenvielfalt. Der Kleine bekommt mehr als der Große.

F: In der EU werden wichtige Entscheidungen von der Kommission ohne demokratische Legitimation getroffen. Die EU hat den Bauernprotesten schnell nachgegeben und Umweltauflagen ausgesetzt.

NL: Die demokratische Legitimation der EU ist gut. Entscheidungen werden in Trilog-Verhandlungen in der Regel als Kompromisse zwischen Kommission, Ministerrat und EU-Parlament getroffen. Das Einstimmigkeitsprinzip muss fallen, allerdings gibt es z.B. von den Herren Orbán und Fico dagegen großen Widerstand.

F: Demokratie heißt, dass die Wähler eine Regierung abwählen können, die kommende EU-Wahl ermöglicht dies aber nicht. Regierungen bestimmen den Kommissionspräsidenten, nicht die Wähler. In der EU müssen grundlegende Entscheidungen getroffen werden, auf die der Wähler kaum Einfluss nehmen kann. Diese Entscheidungen können auch nicht dem Markt überlassen werden. So war es z.B. eine politische Entscheidung von Frau Merkel, die deutsche Photovoltaik-Branche sterben zu lassen.

F: Die EU bietet sehr wohl die Möglichkeit der Einflussnahme für die Bürger. So hat das EU-Parlament eine entsprechende Online-Plattform, auf der Eingaben möglich sind. Dort konnte ich mich für eine positive Bewertung der deutschen dualen Berufsausbildung stark machen konnte. Das funktioniert sogar besser als im Bundestag und Landtag. Europa hat keinen Mangel an Demokratie.

NL: Was passierte nach der letzten Europa-Wahl? Ursula von der Leyen wurde als Präsidentin gewählt, nachdem Macron und Orbán den EVP-Kandidaten Manfred Weber für dieses Amt abgelehnt hatten. Eine Neuwahl war nicht möglich.

F: Die EVP will sich rechten Fraktionen annähern. Frau von der Leyen und Herr Söder finden z.B. die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gut. Kann sich die EVP von rechten Fraktionen distanzieren?

NL: Kooperationen mit rechten Fraktionen müssen differenziert betrachtet werden. Die Kriterien hierbei sind: Ist eine Fraktion pro Rechtsstaat, pro Europa und pro Ukraine. Ebenso wäre eine Brandmauer nach links wünschenswert.

F: Muss man bei der Wahl der EVP damit rechnen, dass diese mit rechten Parteien kooperiert?

NL: Die Linksfraktionen sind ebenso europakritisch wie die Rechten. Wir als EVP haben das Interesse mit Sozialdemokraten und/oder Liberalen zusammenzuarbeiten.

F: Welche Veränderungen stehen beim Schutzstatus des Wolfs an?

NL: Die Mitgliedsstaaten können schon jetzt bei „Problemwölfen“ eingreifen.  Es gibt einen Vorschlag den Schutzstatus des Wolfs herabzusetzen. Dieser Vorschlag braucht eine doppelte Mehrheit, der Beschluss wird wohl in diesem Jahr kommen.

F: Wieso versucht die EU die Staaten des Westbalkans aufzunehmen? Diese Staaten haben keine demokratische Tradition, ein Teil dieser Staaten flirtet mit Putin. Die EU würde sich im Falle einer Aufnahme dieser Staaten weiter handlungsunfähig machen. Stimmt es, dass die EU schon jetzt Milliarden an diese Staaten zahlt?

F: Auch bei der Zusage der Mitgliedschaft an die Ukraine war es schon fraglich, ob diese die EU-Beitrittskriterien einhalten kann, auch die Ukraine hat keine demokratische Tradition.

F: Bevor man neue Mitglieder in die EU aufnimmt, sollte das Einstimmigkeitsprinzip fallen.

F: Wieso macht man jetzt Georgien Hoffnung auf eine Mitgliedschaft in der EU, wo man doch in dieser Frage schon bei Ukraine vorschnell war?

NL: Das Einstimmigkeitsprinzip sollte fallen, das wird aber von Viktor Orbán blockiert. Europäische Länder sollten eine Beitrittsperspektive haben, wenn sie das wollen. Ein Denken in Blöcken und Einflusssphären ist hier überholt. Die Beitrittskriterien umfassen 35 einzelne Kapitel, die abgearbeitet werden müssen. Es gibt keinen Herrschafts-, Territorial- oder Machtanspruch auf den Beitritt. Zu den Staaten des Westbalkan möchte die EU die Annäherung vorantreiben, weil diese Staaten sonst unter russischen Einfluss geraten. Für diese Länder gibt es Vorbeitrittshilfen, genaue Beträge können nicht genannt werden. Eine EU-Mitgliedschaft von Georgien und der Ukraine ist keine Provokation Russlands. Die Ukraine ist auf dem Weg – nicht mehr und nicht weniger. Solange in der Ukraine Krieg herrscht, wird es ohnehin keine Mitgliedschaft geben können.

F: Abschließend eine Frage, die sich die Bürger oft stellen, verbunden mit der Bitte um eine möglichst kurze Antwort: Was haben wir von der EU? Was ist letztlich der Gewinn für unser Land?

NL: Dank der EU ist der Kontinent seit Jahrzehnten befriedet, wirtschaftlich profitiert Deutschland stark vom Binnenmarkt. Kommende Herausforderungen können wir lösen, indem wir mehr auf der europäischen Ebene zusammenarbeiten. Den Herausforderungen können wir auch gemeinsam mit den Amerikanern begegnen.

 

 4. Abschluss und Dank (Karl Schneiderhan)

Karl Schneiderhan dankt den Teilnehmern für Ihre engagierten Beiträge, auch für die durchaus kontroverse Diskussion sowie Herrn Norbert Lins, der mit seinem Impuls und seinen Diskussionsbeiträgen einen realistischen Einblick in die Politik der EU ermöglicht hat.

Abschließend zitierte er ein Wort von Alfred Grosser, Politikwissenschafter und Germanistik, der sich seit der Nachkriegszeit für die deutsch-französischen Beziehungen eingesetzt hat. Vor über 10 Jahren sagte er in SWR2: „Bei dieser Identität, gemeint ist Europa, geht es um die Überwindung des Nationalismus, die Überwindung der nationalen Selbstbezogenheit, es geht um soziale Gerechtigkeit und um Rücksicht auf die Leiden der anderen. Leider ist der Weg dahin schwierig. Ich möchte dennoch eine Prognose wagen: Entweder gehen wir unter durch eine neue Teilung Europas - oder vielleicht gelangen wir zu dieser gemeinsamen Identität, was doch, glaube ich, sehr schön wäre.“

 

Kommentare?!?

Schick uns Deinen Text