28.04.2025: Schwäbisches Tagblatt: Redaktioneller Lokaljournalismus im Umfeld digitaler Plattformen
1. Begrüßung und Einführung (Wolfgang Hesse)
Ich darf Sie sehr herzlich zu unserer heutigen Veranstaltung „Redaktioneller Lokaljournalismus im Umfeld digitaler Plattformen” begrüßen.
In einer Zeit, in der digitale Plattformen unsere Kommunikations- und Informationskultur grundlegend verändern, sieht sich auch der Lokaljournalismus mit großen Herausforderungen, aber auch mit spannenden Chancen konfrontiert. Wir wollen heute darüber sprechen, ob und wie redaktionelle Inhalte in lokalen Kontexten bedroht sind, wie sie zukunftsfähig bleiben können und welche Rolle neue digitale Informationsangebote in diesem Veränderungsprozess spielen. Zudem werden wir der Frage nachgehen, wie sich journalistische Qualität und Glaubwürdigkeit auch im digitalen Raum sichern lassen.
Ich freue mich, dass uns heute Herr Hans-Jörg Schweizer, der Redaktionsleiter des Schwäbischen Tagblatts Tübingen als kompetenter Impulsgeber und Gesprächspartner zu Verfügung steht. Vielen Dank, lieber Hans Jörg, dass Du Dir die Zeit für unseren Gesprächskreis genommen hast.
Hans- Jörg Schweizer wurde 1970 in Crailsheim geboren.
1990 bis 1992 Zivildienst im Diakoniekrankenhaus Schwäbisch Hall
1992 Studium der Geologie und Paläontologie an der Uni Tübingen
2000 Abschluss als Diplomgeologe
2000 bis 2002 Volontariat beim Schwäbischen Tagblatt in Tübingen (als einer der ersten fünf Online-Volontäre in Deutschland)
2002 bis 2012 Lokal- und Sportredakteur bei der Neckar-Chronik in Horb
2012 bis 2020 Leiter der Online-Redaktion beim Schwäbischen Tagblatt
2020 bis 2023 Chef vom Dienst beim Schwäbischen Tagblatt
Seit 2024 Redaktionsleiter beim Schwäbischen Tagblatt
Einführung in das Thema
Zur Einführung möchte ich kurz einige grundlegende Unterschiede zwischen Printmedien und digitalen Informationsangeboten aufzeigen.
Zeitungen, auch Lokalzeitungen, zählen zu den redaktionellen Medien. In diesen Medien erstellen ausgebildete Journalisten die zu veröffentlichende Inhalte, überprüfen die Quellen der verwendeten Informationen und trennen in der Regel klar zwischen Tatsachenberichten und Meinungsäußerungen. Redaktionelle Medien tragen die Verantwortung für die von ihnen verbreiteten Informationen. Sie bezahlen Journalisten für die Erstellung von Inhalten. Bei Zeitungen kommen die Kosten für Druck und Vertrieb hinzu.
Redaktionelle Medien stehen heute in einem enormen wirtschaftlichen Wettbewerb mit digitalen Plattformen wie Youtube, TikTok oder Facebook sowie anderen digitalen Informationsangeboten. Auf diesen Plattformen veröffentlichen journalistische Laien, die sich hier „Nutzer“ nennen, Nachrichten und Informationen oder äußern ihre Meinung. Dafür werden sie - mit Ausnahme von Youtube - nicht bezahlt. Für den einzelnen Nutzer sind die Veröffentlichungskosten drastisch gesunken. Um etwas im Internet zu veröffentlichen, benötigt man für wenige Euro im Monat etwas Speicherplatz auf einem Server und ein Content-Management-Programm (CMS), wie etwa WordPress oder Joomla, das zumeist kostenlos ist.
Digitale Plattformen verdienen ihr Geld nicht mit den generierten Inhalten, sondern mit Werbung, die diese Inhalte begleitet. Im Gegensatz zu redaktionellen Medien sehen diese Plattformen sich nicht in der Verantwortung für die von ihren Nutzern veröffentlichten Inhalten. Sie verorten sich in einer ähnlichen Rolle wie ein Telefonanbieter. Auch dieser ist schließlich nicht für die über sein Netz kommunizierten Inhalte verantwortlich.
Aufgrund dieser Konstellation konkurrieren die traditionellen Medien mit den digitalen Plattformen sowohl im Bereich der Informationsvermittlung als auch um Werbeeinnahmen. Zur Vertiefung des Themas empfehle ich das Buch „Die große Gereiztheit“ von Bernhard Pörksen, das wir vor einiger Zeit auch hier im Gesprächskreis schon besprochen hatten.
Vor diesem Hintergrund soll das folgende Gespräch mit Herrn Schweizer sowohl die aktuelle Situation als auch mögliche zukünftige Entwicklungen der Lokalzeitung beleuchten und einen Einblick in die Perspektiven und Herausforderungen des Lokaljournalismus geben.
2. Impuls (Hans-Jörg Schweizer, Schwäbisches Tagblatt)
3. Diskussion und Austausch (Moderation: Wolfgang Hesse; Protokoll: Karl Schneiderhan)
- Angesichts wirtschaftlicher und medialer Rahmenbedingungen stellt sich die Frage nach den Auswirkungen für den Lokaljournalismus. So nehmen z. B. Reklame, lange Experteninterviews und Werbung heute breiteren Raum ein.
- Laut Herrn Schweizer haben sich Tageszeitungen früher zu zwei Dritteln über Anzeigen finanziert und zu einem Drittel über Abos. Heute ist das Verhältnis umgekehrt. Zudem lesen jüngere Menschen (unter 60 oder 50!) kaum noch gedruckte Zeitung, sodass das Geschäftsmodell der klassischen Printmedien in absehbarer Zeit nicht mehr funktionieren kann. Um den Wegfall eines Abos der Printausgabe zu kompensieren, braucht die Zeitung vier bis fünf neue Online-Abonnenten. Die wirtschaftliche Entwicklung hat Konsequenzen hinsichtlich Personal und Arbeitsweise. Umfangreichere Recherchen, etwa zu historischen Themen, sind nicht mehr im selben Maße wie früher möglich. Das gilt auch für die Teilnahme an Veranstaltungen von Vereinen oder kommunalen Gremiensitzungen.
- Dennoch bedauert ein Teilnehmer, dass zu wenig über das Vereinsleben berichtet wird, zumal Vereine Probleme haben, engagierte Leute zu gewinnen. Es ist nach wie vor möglich, so Herr Schweizer, über das Vereinsleben zu berichten, dann aber besser nicht über die zigste Hocketse, sondern besser im Voraus über wirklich interessante Ereignisse oder Personen, die jahrzehntelang die Vereinsarbeit prägten und etwas zu erzählen haben. Für Hinweise dazu ist das Tagblatt dankbar.
- Ein Teilnehmer stört sich an der Gendersprache sowie an der ganzseitigen Reklame von Lebensmittelkonzernen. Früher war Werbung als Beilage beigefügt, sodass jeder entscheiden konnte, ob er diese liest.
- In Bezug auf das Gendern verweist Herr Schweizer darauf, dass die dpa-Regel gilt. Das bedeutet: Bei Personengruppen werden in einem Artikel zunächst die männliche und die weibliche Form gewählt, zum Beispiel Besucherinnen und Besucher, in der Folge wird dann nur noch das generische Maskulinum verwendet.
- Früher sei über wichtige Ereignisse in der Region berichtet worden. Kann man sich heute noch darauf verlassen, durch die Lokalpresse umfassend informiert zu sein? Zudem wachse durch die Nutzung Künstlicher Intelligenz eine Gefahr hinsichtlich der Qualität der Berichterstattung.
- Herr Schweizer stellt klar, dass sie Artikel nicht von KI-Programmen schreiben lassen. KI-Programme erleichtern zwar in begrenztem Umfang das Recherchieren von Themen, das Kürzen langer Pressemitteilungen und vor allem die Automatisierung mancher einfacher Arbeitsschritte. Künstliche Intelligenz kann aber nur zusammentragen, was bereits von Behörden oder Organisationen frei zugänglich im Internet veröffentlicht wurde. KI kann jedoch keine Rückfragen stellen und auch keine Hintergründe aufdecken, die noch kein Mensch recherchiert hat. Die KI wird daher nicht die Kernarbeit des Journalismus ersetzen können.
- Angesichts schlechter gewordener Rahmenbedingungen stelle sich umso mehr die Frage nach thematischer Priorisierung, also die Frage, worüber Berichte veröffentlicht werden. Ein Teilnehmer stellt fest, dass Berichte weniger werden bzw. kürzer ausfallen, dafür des Öfteren umso größere Bilder. So erschienen immer weniger Berichte über Bildung und Kultur, insb. zu Ausstellungen. Die Gefahr dabei ist, dass angesichts dieser Reduzierung Vielfalt verloren geht. Als notwendig erachtet wird zudem, dass bei brisanten aktuellen Themen mehr nachgehakt wird. (z. B. beim Thema Windkraft in Rottenburg zu den inzwischen erfolgten Messungen bzw. Prüfungen)
- Was Umfang und Art der Berichterstattung betrifft, verweist Herr Schweizer darauf, dass die vermeintlich kürzeren Texte eine gefühlte Wahrheit sind, die sich mit den Tagblatt-Statistiken nicht belegen lässt. Im Landkreis Tübingen gab es einige Jahre lang mehrere Ausgaben (Tübingen, Steinlachtal, Rottenburg), aus pragmatischen Gründen gibt es inzwischen wieder eine gemeinsame Kreisausgabe, wie früher auch schon. Dadurch steht aber nicht weniger in der Zeitung, es steht nur in anderer Reihenfolge an einer anderen Stelle. Was die Gestaltung der Seiten betrifft, haben diese, wie Herr Schweizer an einem Beispiel zeigt, in der Regel eine einheitliche und übersichtliche Struktur: Mittig ein A-Stück (Vierspalter) mit einem zum Thema passenden Foto, rechts und links davon jeweils ein B-Stück (Einspalter) oder Meldungen (Terminhinweise oder kurze Nachrichten). Dies dient dazu, ohne großen Umbauaufwand gleichgroße Artikel auf den Seiten der verschiedenen Lokalausgaben in der Region Neckar-Alb platzieren zu können. Terminhinweise zu Veranstaltungen werden nach wie vor veröffentlicht. Im Idealfall erscheint bei besonderen Ereignissen im Voraus ein Bericht, um entsprechende Aufmerksamkeit zu erzeugen, anstatt erst nach einem einmaligen Ereignis zu berichten, wenn dieses schon vorbei ist, was weniger Informations- und vor allem Servicewert für Leserinnen und Leser hat.
- Kritisch angemerkt wird, dass die Trennung von Bericht und Kommentar öfters zu wenig eingehalten wird. Insbesondere bestehe diese Gefahr bei den Online-Angeboten, um z. B. mit entsprechenden Überschriften mehr Aufmerksamkeit zu erzeugen.
- Laut Herrn Schweizer deckt sich das Online-Angebot zu 80% mit dem Printmedium. Texte im Online-Angebot sind weitgehend identisch. Überschriften sind meist anders formuliert, da sie bei Online-Artikeln darauf achten müssen, dass diese bei Google und anderen Suchmaschinen gefunden und ausgespielt werden. Die Formulierung der Überschrift ist dafür entscheidend, Stichwort Suchmaschinenoptimierung. Seiner Einschätzung nach gelinge die Trennung von Bericht und Kommentar durchaus. Es kann aber durchaus mal passieren, dass ein Reporter seine persönliche Haltung nicht komplett aus einem Bericht heraushält.
- Gefragt wird, ob festgestellt werden kann, wie oft Artikel online aufgerufen werden.
Dies ist, so Herr Schweizer, möglich und wird immer mehr genutzt. Die Redaktion kann so sehen, welche Themen und welche Formen der Darstellung bei den Lesern gut ankommen und welche nicht so gut. Würde man sich aber nur nach den Klickzahlen richten, gäbe es nur noch Blaulicht-Themen. Es ist deshalb wichtig, dass die Redaktion permanent selbst neue Themen setzt. - Gesellschaftlich sei in vielen Jahren Kapitalismus und Egoismus gefördert worden. Ein Teilnehmer stört sich daher am Mainstream der Presse und wünscht sich, dass Medien und Presse ihre journalistische Arbeit auch als Erziehungsauftrag verstehen. Herr Schweizer hat ein anderes Selbstverständnis als Journalist. Es sei vielmehr die Aufgabe der Lokalpresse, über Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen zu berichten sowie diese einzuordnen und zu kommentieren, sodass sich Leser selbst eine Meinung bilden können.
- Auf die Frage, ob Journalisten nach wie vor ‚frei‘ arbeiten können, stellt Herr Schweizer klar, dass dies in seiner Zeit als Redakteur immer der Fall war. Er habe nie erlebt, dass Verleger oder andere Vorgesetzte auf seine journalistische Arbeit Einfluss genommen hätten.
- Eine Frage zielte auf die Verantwortung der Lokalpresse hinsichtlich politischer Prozesse, die kritisch zu begleiten, eine zentrale Aufgabe der Medien in einer Demokratie ist. Als Beispiel wurden die Wahlen des letzten Jahres genannt, wie OB-Wahl, Europa- und Kommunalwahl sowie Bundestagswahl. Das Tagblatt hat zwar am darauffolgenden Montag Wahlergebnisse aller Wahlbezirke veröffentlicht sowie über Wahlpartys der Parteien berichtet, in der Regel verbunden mit einem Kurzkommentar. Eine vertiefte Wahlanalyse erfolgte allerdings nicht. Das sei zu bedauern, zumal sich in den Wahlergebnissen einige relevante lokale Konfliktfelder offenbaren (das war das Ergebnis der Wahlanalysen im politischen Gesprächskreis), was u. a. das überdurchschnittliche Abschneiden der AfD zeigt (knapp 20%, in mehreren Wahlbezirken über 30%). So wäre eine öffentlich relevante Frage, warum die AfD in Tübingen lediglich 6,5% erreicht, während in Rottenburg der Anteil drei Mal so hoch ist. Wäre es nicht Aufgabe der Lokalpresse, solche Entwicklungen auf lokaler Ebene im Nachgang gründlicher zu analysieren, um Bürger stärker für solche Phänomene zu sensibilisieren?
- Herr Schweizer erinnert an die jeweilige Berichterstattung im Vorfeld der Wahlen, u. a. Interviews mit Kandidaten und Kandidatinnen sowie das Wahlpodium im Kontext der Bundestagswahl. Er gesteht aber zu, dass man im Nachgang möglicherweise noch tiefer in die Analyse der Ergebnisse hätte einsteigen können.
- Eine Teilnehmerin berichtet von Entwicklungen in Ostdeutschland, wo es zahlreiche Abbestellungen und in vielen Orten keine Lokalzeitung mehr gibt, dass diese Lücke inzwischen die AfD mit entsprechenden Veröffentlichungen zu lokalpolitischen Ereignissen ausfüllt.
4. Abschluss
Wolfgang Hesse dankt den Teilnehmenden für die engagierte Diskussion sowie Herrn Schweizer für seinen informativen Impuls und für die Zeit, die er für den politischen Gesprächskreis zur Verfügung gestellt hat.
Abschließend weist Wolfgang Hesse noch hin auf den neuen Flyer ‚Politischer Gesprächskreis‘ und lädt dazu ein, mit dem Flyer im Bekannten- und Freundeskreis für den Gesprächskreis zu werben.
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