Förderverein Stadtbibliothek Rottenburg

29.09.2025: Zwischen verdrängtem Notstand und politischer Leere - Impulse zu Leben und Wohnen im Alter

1. Begrüßung und Einführung (Karl Schneiderhan)

Herzlich Willkommen zum politischen Gesprächskreis, in dem wir heute ein für die ältere Generation wie die gesamte Gesellschaft aktuelles und brisantes Thema diskutieren, was bereits in der Ankündigung zum Ausdruck kommt: „Zwischen verdrängtem Notstand und politischer Leere - Impulse zu Leben und Wohnen im Alter“.

Von einem bekannten Schriftsteller und Denker im Zeitalter der Aufklärung, Johann Gottfried Herder, ist folgendes Zitat überliefert: „Wie Menschen denken und leben, so bauen und wohnen sie.“ Das gilt auch für Bauen und Wohnen im Alter. Unbestritten ist, angesichts der demographischen Entwicklung zählt die Schaffung bzw. Bereitstellung von seniorengerechtem Wohnraum zu den größeren gesellschaftlichen Herausforderungen.

Nicht ohne Grund stellte vor einigen Jahren der Landesdemographiebeauftragte Thaddäus Kunzmann fest, es würden massenhaft Wohnungen für Senioren fehlen und von den tausenden in Baden-Württemberg gebauten Wohnungen seien nur die wenigsten für ältere Menschen geeignet. Er warnte damals vor einem krassen Missverhältnis von Bedarf und Bestand. Hoffnungen auf bessere Zeiten sah er damals nicht und forderte die Politik zu einem Umdenken im Wohnungsbau auf. Im Jahr 2025 würden, so Kunzmann damals, nach einer Studie des Instituts für Bauforschung bereits 2 Mio. und bis 2030 sogar 3 Mio. Wohnungen für Senioren in Deutschland benötigt. Bis zum Jahr 2040 seien allein im Südwesten rund 486.000 barrierefreie Wohnungen nötig.

Auch in Bezug auf Pflegeeinrichtungen zeichnen sich seit Jahren gravierende Heraus-forderungen ab. Auch hier geraten Bedarfsgerechtigkeit, Versorgungssicherheit und Finanzierbarkeit, bis heute der Anspruch an die Pflegeleistungen von Heimeinrichtungen, ebenfalls zunehmend aus der Balance. Systembedingt zeigen sich auch in diesem Bereich Funktionsstörungen, trotz des rastlosen Einsatzes des pflegenden Personals.

Die Frage ist also: Was hat sich seitdem getan? Wie stellt sich heute und für die Zukunft das Verhältnis zwischen Bedarf und Bestand dar? Welche Vielfalt an Wohnungsformen braucht es?

Wir greifen mit diesem Thema also eine zentrale gesellschaftliche wie persönliche Herausforderung auf, der wir uns auch im Landkreis Tübingen wie in der Stadt Rottenburg stellen müssen. Denn eine flächendeckende Versorgung mit öffentlichen Gütern und Dienstleistungen zu sozial verträglichen Preisen, bei angemessener Erreichbarkeit als Voraussetzung zur Teilhabe und die Bereitstellung von zentrumsnahem Wohnraum zählen unmittelbar zur öffentlichen Daseinsvorsorge.

Dabei ist immer mitzudenken, Angebote bzw. Maßnahmen für Senioren sind meist ein generationenübergreifender Gewinn, da diese in der Regel allen Bevölkerungsgruppen, insbesondere Familien mit Kindern zugutekommen, wenn z. B. Ältere Eigenheime frei machen für jüngere Familien oder bei sozialen Hilfestrukturen vor Ort, dem Ausbau von Verkehrswegen, den Verbesserungen im Gesundheitswesen oder durch Abbau von Barrieren in Wohnungen und im öffentlichen Raum.

Aus gutem Grund fordert der Landesseniorenrat Baden-Württemberg in einem jüngst veröffentlichten Positionspapier eine bedarfsgerechtere Wohnungspolitik für senioren-gerechtes Wohnen. Denn „Wohnen ist mehr als ein Dach über dem Kopf zu haben, vielmehr Ausdruck von Selbstbestimmung, Vertrautheit und Sicherheit.“ Zur Wohnqualität im Alter gehören deshalb Wohnraum und Wohnumfeld.

Experten sind sich darin einig, das Thema ‚Leben und Wohnen im Alter‘ muss im politischen Diskurs in seiner Dringlichkeit stärker in den Fokus rücken. In diesem Kontext diskutieren wir heute Bedarf und Anforderungen an eine zeitgemäße Wohnungspolitik im Alter, u. a. auch bezogen auf die Stadt Rottenburg und den Landkreis Tübingen. 

Wir freuen uns, dass wir als Impulsgeber einen im Fach ausgewiesenen Experten und Kenner des örtlichen Wohnbedarfs gewinnen konnten: Herrn Michael Lucke, ehemals Finanzbürgermeister in Tübingen und aktuell Vorsitzender des Kreisseniorenrates im Landkreis Tübingen.

 

2. Impuls (Michael Lucke, Vorsitzender des Kreisseniorenrates)

Zur Präsentation  

  

3. Diskussionsrunde (Protokoll Rudolf Uricher)

Beiträge und Fragen in der ersten Runde:

  • Zum gemeinschaftlichen Wohnen wurde die Frage gestellt, wie flexibel die neuen Wohnblöcke auf dem DHL-Gelände hinsichtlich einer Anpassung in der Größe der Wohnungen sind. Wurde das bedacht?
  • Im Zusammenhang mit der Schließung des Altenpflegeheimes ‚Haus am Rammert‘ wurde gefragt, ob sich dieses nicht für eine Konzeption gemeinschaftlichen Wohnens für Senioren geeignet hätte. Angeschlossen war die Frage, wo es hier solche Angebote gibt.
  • Zudem wurde festgestellt, dass es in Rottenburg eine Jugendvertretung gibt und die Frage damit verbunden, ob es nicht auch einen „Altengemeinderat“ bräuchte.
  • In mehreren Beiträgen wurde zum Thema Wohnraum angemerkt, dass Eigentümer von Einfamilienhäusern als Alternative eher nach Tiny-Häusern suchen als nach Wohnungen in größeren Blöcken. Aber für Tiny-Häuser gebe es keine Plätze. Es brauche deshalb eine Änderung der Baulandpolitik, bisherige Bebauungspläne seien zu unflexibel. In neuen Baugebieten müsse berücksichtigt werden, dass auch individuelle Kleinlösungen in Gemeinschaftsprojekten möglich seien.
  • In einem weiteren Beitrag wurde der Notstand im Hinblick auf das Pflegepersonal angesprochen. Selbst wenn es Pflegewohngemeinschaften gebe, sei die Frage, wie es weitergeht, wenn der Pflegebedarf von Personen größer wird. Wichtig sei, politisch an diesen Themen dranzubleiben. Bislang hätten die politischen Parteien hier versagt. 

Michael Lucke nahm zu den Fragen und Beiträgen zusammenfassend wie folgt Stellung:

  • Im Hinblick auf die Situation des DHL-Geländes oder vergleichbarer Flächen sei Folgendes zu bedenken: Wie soll Wohnen von Senioren in der Stadt sein? Wer führt Gespräche mit den Eigentümern? Wie ist das (gemeinschaftliche) Wohnen organisiert? Welche Dienstleistungen gibt es in einem Quartier? Hier müsse sich das Denken in der Politik verändern und das gelte schon für die Bauleitplanung (u. a. Risiko von „Ghettos“). Im DHL-Gelände stünden nur Gebäude, es seien aber keine Begegnungspunkte vorhanden.
  • Es müsse eine Bedarfsorientierung stattfinden: Wer braucht was zum Wohnen? Das sei in Rottenburg noch nicht so in den Blick genommen worden.
  • Insgesamt stelle sich die Frage, wie die (betroffenen) Menschen einbezogen werden müssten. Hier stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit eines Seniorenrates.
  • Zur Schließung des Altenpflegeheimes ‚Haus am Rammert‘ merkte Herr Lucke an, dass hierzu der Kreisseniorenrat zwar noch angehört worden sei, aber die Entscheidung über die Schließung sei schon getroffen gewesen.
  • Bei Pflegewohngemeinschaften stellt sich die Frage, wie (steigender) Pflegebedarf abgedeckt werden könne. Durch sog. Entbürokratisierung würden evtl. Rahmen-regelungen entfallen (Einsparungen), die aber für die Grundstruktur von Bedeutung seien.
  • Als positives Beispiel nannte Herr Lucke ein Projekt gemeinschaftlichen Wohnens in Gomaringen, innerhalb dessen auch 6 Zimmer für Pflege eingerichtet sind.
  • Insgesamt merkte Herr Lucke an, dass die Betroffenen sich organisieren müssten, es brauche Aktivitäten und Eigeninitiativen. 

In einer zweiten Fragerunde wurde Folgendes angesprochen:

  • Bietet sich das freiwerdende Polizeigebäude in der Königstraße für eine Projekt gemeinschaftlichen Wohnens an? Im selben Beitrag wurde die geplante Pilgerherberge im Jeckel-Areal kritisiert. Zum letzteren Projekt gab es in der Planungsphase von Seiten des Bezirksseniorenrates den Vorschlag, in den oberen Etagen weniger Büros und Übernachtungen und dafür mehr seniorengerechten Wohnraum zu schaffen.
  • Bemängelt wurde, dass es im Gemeinderat wie in der Öffentlichkeit (im Gegensatz zum Schlachthof) keinen politischen Diskurs zum Planungskonzept des Jeckel-Areal gegeben habe.
  • Vor der Bebauung des DHL-Geländes wäre, wie des Öfteren in anderen Städten praktiziert, eine Quartiersentwicklung sinnvoll gewesen.
  • Für ältere Menschen brauche es ein größeres Angebot kleinerer (bezahlbarer) Wohnungen in der Stadt.
  • Allerdings wurde auch angemerkt, dass für den Wechsel aus einem Einfamilienhaus das Angebot einer 2-Zimmer-Wohnung nicht attraktiv sei.
  • Dann wurde gefragt, ob es schon Auswertungen gibt über das Funktionieren gemeinschaftlichen Wohnens.

Zusammenfassend ging Herr Lucke auf diese Punkte wie folgt ein:

Im Zusammenhang mit solchen Projekten muss die Erwartung der Menschen berücksichtigt werden:

  • Gewährleistung der Privatheit oder Abstimmung des Bedarfs hinsichtlich der gemeinschaftlichen Nutzung der Räumlichkeiten (u. a. Angebot an zusätzlichen Gästezimmern),
  • Platzierung des Gebäudes muss im zentralen Bereich sein (Kontakte),
  • Interessierte Menschen müssen mitentscheiden können und
  • Koordination durch die Stadt.
  • Hinsichtlich der Rechtsform gebe es verschiedene Modelle.

Weitere Anmerkungen aus dem Teilnehmerkreis:

  • In Ergenzingen sei vor vielen Jahren betreutes Wohnen eingerichtet worden, das sich zum gemeinschaftlichen Wohnen entwickelt habe. Eine Kerngruppe mache vieles gemeinschaftlich.
  • In einem anderen Beitrag wurde angemerkt, dass jeder für sich die angesprochenen Punkte analysieren müsse. Gleichzeitig sei es ein emotionales Thema, von Dingen Abschied zu nehmen. Für solch einen Wechsel, so Michael Lucke, sei eine gute Vorbereitung und Organisation erforderlich ist. Die innere Einstellung spiele dabei eine große Rolle.

 

Abschließend dank Karl Schneiderhan Michael Lucke für den informativen und aufschluss-reichen Impulsvortrag und für die zahlreichen hilfreichen Anregungen sowie bei allen Teilnehmenden für die interessierte und engagierte Diskussion. Er beschließt den Gesprächskreis mit der ermutigenden Zusage: Das Alter ist die einzige Möglichkeit, lange zu leben.

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